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Nur Geborene können sterben
Fast alles ist heute gesetzlich geregelt. Über das Schicksal der abgetriebenen Kinder aber schweigt sich das Gesetz aus.
Fast alles ist heute gesetzlich geregelt. Über das Schicksal der abgetriebenen Kinder aber schweigt sich das Gesetz aus.
In unserer hochkomplizierten Industrie- und Wohlstandsgesellschaft gibt es wohl kaum einen Bereich des menschlichen Zusammenlebens, der nicht in irgendeiner Weise durch gesetzliche Normen geregelt ist. Doch während auf der einen Seite scheinbar belanglose Dinge eine Flut detaillierter Regelungen auslösen, existieren auf der anderen Seite doch auch Löcher im Maschendraht der Gesetzgebung. In ihnen siedelt sich eine profitorientierte Industrie an, die diese „Legalität” in menschenverachtender Weise ausnützt.
Ein Beispiel? Verschiedensten Meldungen zufolge fahren durch ganz Europa Lkws, die in Tiefkühlcontainern abgetriebene, menschliche Embryonen an Fabriken liefern, damit sie dort zu Kosmetika verarbeitet werden. Ein Journalist aus Marseille berichtet von Versuchen an noch lebenden, durch Kaiserschnitt intakt erhaltenen Föten, um deren Bauchspeicheldrüsengewebe für die Diabetesbehandlung zu gewinnen.
In den USA wurden Fälle bekannt, in denen Frauen ein Kind einzig zu dem Zweck empfangen hatten, um es abzutreiben und dadurch verwertbare benötigte Gewebe für sich oder ihre Verwandten zu erhalten. In diesem Land gibt es, wie übrigens auch in Bußland und England „Banken für embryonales Gewebe” für Transplantationszwecke.
Gruselgeschichten? Keineswegs. Diese Reihe ließe sich allein mit dem wenigen, was bisher ans Licht gekommen ist, noch lange fortsetzen. Es sind Tatsachen, von denen verschiedenste seriöse Bücher und Zeitschriften berichten. Es ist nun einmal wahr, daß in unserer Gesellschaft grausam getötete ungeborene Kinder industriell verwertet werden! Und es gibt Wissenschaftler, die davon träumen, mit Organen und Geweben Ungeborener ihre immer älter werdenden Patienten zu „reparieren”. Außerdem gibt es auch Firmen, die gefriergetrocknete embryonale Körperteile in einem Farbkatalog zum Kauf anbieten. Der Phantasie sind scheinbar keine Grenzen gesetzt.
Daher stellt sich zweifellos die Frage: Darf man das überhaupt? Gibt es keine Gesetze, die sich mit dieser Thematik befassen? Was muß denn eigentlich mit den abgetriebenen Föten und Embryonen geschehen?
Ein Blick in das Wiener Leichen-und Bestattungsgesetz zeigt, daß es zwar Regelungen für die Bestattung von Tot- und Fehlgeburten gibt, die kraft Fiktion als „Leichen” gelten, für Abtreibungs„abfälle” allerdings findet man nichts. Abtreibungen müssen nämlich nicht gemeldet werden, weshalb für abgetriebene Föten keine Todesbescheinigung ausgestellt wird. Im Gegenteil, sie werden als „Son-dermüll” entsorgt.
Abgetriebene Kinder sind nicht mit Totoder Fehlgeburten gleichzusetzen Gleichzusetzen mit Tot- und Fehlgeburten, also mit Leichen, sind sie aber auch nicht, für diese muß nämlich ein förmliches Verfahren durchgeführt werden. Für abgetriebene Föten und Embryonen hingegen nicht.
Diese sind ja (scheinbar) nicht von Interesse, gelten sie in unserer Rechtsordnung ja nur als „Leibesfrucht” und selbst das erst aber ab der Einnistung in die Gebärmutter. Davor, von der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an, also dem Zeitpunkt, da menschliches Leben beginnt, bis zur Einnistung, gilt das Kind noch nicht als Mensch.
Im Strafrecht ist man „Mensch” überhaupt erst ab der Geburt - deshalb kann man das Kind in den ersten Monaten seines Lebens unter den bekannten Bedingungen völlig legal umbringen. Man muß geboren worden sein, um als verstorben gelten zu können. Also sind abgetriebene Föten aus dem Begriff „Leiche” ausdrücklich ausgenommen, ohne daß man sie irgendwo anders einordnen könnte und ohne daß es einen eigenen Rechtsstatus für sie gäbe. Es läßt sich daher die Regelung über die Störung der Totenruhe ( 190 StGB) nicht auf abgetriebene Kinder anwenden. Deshalb sind sie, anders als andere Leichen, vor Mißbrauch und Vermarktung überhaupt nicht geschützt.
Da es in einer ~ wenn auch bald nur noch in Spuren - christlichen Gesellschaft nicht so einfach durchsetzbar wäre, ihre Verwertung gesetzlich zu erlauben, reicht es für einen kommerziellen Zugriff völlig aus, wenn abgetriebene Föten als „rechtliches Nichts” bzw. als „Sache” gelten. Einer Schließung dieser unmenschlichen Regelungslücke würden sich höchstwahrscheinlich verschiedene Interessierte entgegensetzen, da ihr Tun dann in die Illegalität abrutschen würde. Ob das auch der Grund war, weshalb 1985 ein parlamentarischer Antrag auf Be-schließung eines Bundesgesetzes über das Verbot der Embryomanipulation ganz unauffällig in einem Unterausschuß liegen blieb, bevor er in der Mappe des „Unerledigten” verschwand?
Es gibt kein Gesetz, das die Verwertung von Embryos untersagt Dieser Antrag sah vor, daß „jede entgeltliche oder unentgeltliche Verwertung eines lebenden oder toten Embryos oder eines Teils desselben untersagt” sein sollte. Als Begründung wurde angeführt: „Die Achtung vor dem menschlichen Leben, erfordert es, daß auch menschliche Embryos als unantastbare Individuen angesehen werden. Gemäß Paragraph zwei soll daher jeder Handel mit einem lebenden oder toten Embryo oder eines Teils desselben verboten werden. Insbesondere soll die Verwertung menschlicher Embryonen in der Pharmazeutischen Industrie untersagt werden. Es ist bekannt, daß es häufig zur Befruchtung nur im Hinblick auf die spätere Abtreibung des Embryos kommt, um den Embryo einer Verwertung zuzuführen.”
Achtung vor dem menschlichen Leben? In einer Gesellschaft, die Ja sagt zur Abtreibung? Kein Wunder, daß sich dieser Antrag hierzulande nicht durchsetzen konnte.
Gäbe es keine Abtreibung, so stellte sich das Problem der Verwertung ihrer „Produkte” gar nicht. Würde man andere, menschliche Lösungen für ungewollte Schwangerschaften finden, so müßte man sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, bis zu welcher Grenze man eine solche Verwertung erlaubt oder verbietet. Würde unsere Rechtsordnung den Menschen endlich vom Beginn seines Daseins, nämlich der Verschmelzung von Ei-und Samenzelle, als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ansehen, hätten wir nicht das Problem einer Regelungslücke.
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