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Revolte und Revolution

19451960198020002020

Cattaro—Prag. Revolte und Revolution. Von Richard G. Plaschka. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Graz-Köln. 313 Seiten, 13 Abbildungen, 2 Karten. Preis 165 S.

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Cattaro—Prag. Revolte und Revolution. Von Richard G. Plaschka. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Graz-Köln. 313 Seiten, 13 Abbildungen, 2 Karten. Preis 165 S.

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Als am 1. Februar 1918 um 12 Uhr die Matrosen auf dem Flaggschiff „St. Georg“ der in der Bocche di Cattaro liegenden Flotte unter Hurrarufen! auf das Deck stürmten, gaben sie däs Signal zu einer Demonstration, die freilich bald den Charakter einer Revolte annehmen sollte. Die Ursachen dafür waren in Klagen über die ungleiche Kost von Mannschaft und Offizieren, in dem eintönigen Gamaschendienst auf den durcli die U-Boot-Gefahr am Auslaufen verhinderten Schiffen und in einer wachsenden allgemeinen Kriegsmüdigkeit zu suchen. Es war eine Bewegung, ähnlich den Ereignissen auf den russischen Schiffen vor einem Jahr und künftigen bei der deutschen Marine. Die Revolte der Matrosen in Cattaro war aber dennoch eine österreichische Revolte. Mit Ausnahme der schweren Verwundung eines Offiziers, die eher auf die Kurzschlußhandlung eines einzelnen zurückzuführen war und nicht dem Willen des Matrosenkomitees entsprach, wurde nicht nur vor Gewalt gegen die Offiziere zurückgeschreckt, sondern diese wurden durchweg korrekt benan- delt. „Ich bitte gehorsamst im Namen des Komitees, mir die Pistole zu übergeben.“ Diese von der Entwaffnung der Offiziere auf „Kronprinz Erzherzog Rudolf“ überlieferten, in strammer Haltung vorgebrachten Worte sagen sehr viel (S. 120).

Wenn dennoch sehr bald die Grenzen der alten Legalität überschritten waren und das Abenteuer begann, so lag das nicht zuletzt auch darin, daß der ganzen Bewegung der führende Kopf fehlte. Aber auch bei den Offizieren lag ein Schlüssel. Dort, wo ihre Autorität auf innerer Sicherheit und freiwilliger Achtung durch ihre Untergebenen aufgebaut war, konnten sie die Bewegung weitgehend in den Bahnen des Gesetzes halten und dadurch auch ihren Matrosen einen Dienst erweisen. Dort aber, wo die menschlichen und soldatischen Qualitäten dem Rang nicht entsprachen, brach sich die Revolte eine freite Bahn.

Das1 Ende: Kriegsgericht und ein Exekutionspeloton vor der Friedhofsmauer des kleinen Dorfes Skal- jari, unter dessen Kugeln vier bei der Revolte besonders hervorgetretene Matrosen fielen. Das Königreich Jugoslawien feierte die Exekutierten auf einer Gedenktafel als Vorkämpfer des SHS-Staates. Zu unrecht. Schon ein wenig mehr Berechtigung hat die neue von der Regierung Tito angebrachte Tafel, die den Matrosen von Cattaro als Märtyrer des Sozialismus huldigt. Sozialistische Züge trug die Erhebung ohne Zweifel, freilich Züge eines mehr gefühlsbetonten, utopischen Sozialismus. Denn ob die Sonne, die der Bootsmannmaat Franz Rasch in Rußland aufgehen sah, seinen Hoffnungen entsprochen hätte, darf bezweifelt werden. Die letzten Worte dieses Tschechen, der auch im Angesicht der Gewehrläufe lieber deutsch sprach, lauteten: „Es lebe die Freiheit!“

Signalisierten die roten Fahnen ln Cattaro kommende schwere Erschütterungen, so ließen die Ereignisse im Oktober 1918 keinen Zweifel mehr. Das Ende des Vielvölkerstaates im Donauraum war gekommen. Die Völker wollten ihre eigenen Wege gehen. Zu ihrem Glück? Nur ein Seher kannte die Zukunft.

Mittelpunkt der stürmischen Ereignisse war Prag. Noch einmal gelingt es der alten Macht, eine für 14. Oktober angesagte Massendemonstration unter Kontrolle zu haltet). Nicht zuletzt auch deswegen, weil -die nichtsozialistischen tschechischen Parteien sich zurückhalten. Sie wollen den böhmischen Löwen über Prag und nicht die rote Fahne.

Der 28. Oktober bringt die Entscheidung. Es ist der Tag, an dem in den Straßen Prags die „Äpfel- chen“: — die kaiserlichen Kappenrosen — in den Staub rollen und die weißroten neuen Kokarden angesteckt werden. Aber auch diese Erhebung trägt noch „österreichische“ Züge. Es ist ein Umsturz nicht unter dem Geknatter der Gewehre von den Barrikaden, sondern unter den Tschijiellenschlägen der Bandas. Alle verfügbaren Musikkapellen auf die Straße! Das ist der Befehl der neuen Machthaber. Ihr munteres Spiel soll von Ausschreitungen gegen die deutschsprachigen Mitbürger abhalten. Und vor dem Denkmal des heiligen Wenzel proklamiert der tschechische Priesterabgeordnete Dr. Isidor Zahradnik den neuen Staat, von dem zui

Stunde niemand noch recht weiß, ob er ein Königreich oder eine Republik sein wird und wo seine Grenzen liegen werden: „Frei sind wir, und niemand wird uns die Freiheit nehmen, höchstens wir entsagen ihr selbst!“ Ob sich jemand in Prag genau 30 Jahre später dieser (Worte noch erinnert hat?

Wie die bewegten Ereignisse in Cattaro, so hat auch der Umsturz in Prag in Richard Plaschka einen um Objektivität bemühten, sachkundigen österreichischen Historiographen gefunden. Wie die alte Ordnung sich auflöst, wie sich in ihrem Gefüge das neue Gemeinwesen Zug um Zug etabliert, wie die weitende Macht zuletzt sich noch einmal aufraffen will, um zu widerstehen, schließlich aber doch nur die Fahne endgültig streichen muß: Der Autor versteht, dieses Geschehen als wahre Schicksalstragödie auch den Menschen der Gegenwart nahezubringen. Vielleicht mußte wirklich ein Abstand von Jahrzehnten kom men, vielleicht mußte man auch auf eine neue Generation österreichischer Historiker warten, die frei ist von den Schatten des Jahres 1918, aus denen viele ihrer Väter nie heraustreten konnten. Auch trübt dem geborenen Südmähren eigenes Schicksal nie den Blick, sondern seine Kenntnis der tschechischen Sprache, der Psychologie des tschechischen Volkes ermöglichten erst gemeinsam mit der Erforschung aller lebenden und toten Quellen dieses Buch, das den irrenden, den ringenden und hoffenden Menschen gewidmet ist. Es ist somit auch ein Beitrag zu einer neuen Verständigung der Völker im Donauraum.

Und noch eines: „Wissenschaftlicher Stil“ steht bei uns oft für langatmig, ledern und unbeholfen. Daß auch ein streng wissenschaftliches historisches Werk so geschrieben werden kann, daß man es, einmal begonnen, nicht mehr aus der Hand legt, dafür hat Richard Plaschka einen überzeugenden Beweis geliefert.

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