Zwei Dreiecksgeschichten mit mitgelieferter Moral wird

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Andrea de Carlo hilft der Selbsterkenntnis, Ian McEwan der Diskretion auf die Sprünge.

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Andrea de Carlo hilft der Selbsterkenntnis, Ian McEwan der Diskretion auf die Sprünge.

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Beziehungsgeschichten, jeweils zwischen drei Personen, bestreiten einen Teil des Diogenes-Herbstprogramms. Während Andrea De Carlos Roman "Wir drei", der acht Monate lang auf den italienischen Bestsellerlisten zu finden war, eine Art Zeitgeschichte des italienischen Lebensgefühls der sechziger Jahre bis heute liefert, macht der neue Roman "Amsterdam" des Engländers Ian McEwan klar, warum die sexuellen Vorlieben des einen oder anderen Politikers, die im Wahlkampf für ein Skandälchen gut wären, lieber doch nicht an die Öffentlichkeit gebracht werden. Doch beginnen wir bei der italienischen Zeitgeschichte: Livio macht gerade sein Examen in Geschichte über die Kreuzzüge und lernt Misia in einer Bar kennen. "Ich war auf meinem mentalen Schneidetisch schon Dutzende von Gesten und Sätzen durchgegangen und hatte jedesmal wieder zum Ausgangspunkt zurückgespult, ganz starr vor Verlegenheit, auch nur daran gedacht zu haben." Das Undenkbare passiert trotzdem - sie kommen sich näher. Misia ist eine schöne Frau, eine Geheimnisvolle, die oft verschwindet. Als Fixstern einer anderen Galaxis gibt es auch noch Marco, der beschließt, einen Film zu drehen. Aus der Idee wird eine low budget-Produktion. Misia spielt durch Zufall die Hauptrolle, nicht nur im Film, sondern auch im Leben der beiden.

Wir bekommen den Film nur erzählt, und weil wir die Bilder des Neoverismo kennen, wissen wir auch, was gemeint ist. Dazwischen lesen wir über die entsprechende Musik der sechziger und der siebziger Jahre und schlittern in die Wende von den Hippies zu den Anpassungen des Alltags. Die Bilder beginnen im Kopf zu laufen, die drei streiten sich, trennen sich, Livio beginnt zu malen, Marco wird erfolgreich, Misia ist drogensüchtig und heiratet reich, und das gleich zweimal. Jeweils nach Ewigkeiten sehen sich die drei wieder, immer an Wendepunkten ihres Lebens. Ein literarisches Road Movie, die Schilderung einer engen Beziehung, die durch die Aussparungen lebt, durch das, was nicht erzählt wird. Weit kommen wir herum mit den dreien, wir bekommen sie aber nicht über und würden wohl gern noch weiterlesen, wenn es aus ist. Unaufdringlich verpackt der Autor seine Weisheiten: "Verrückt ist nur, wer sein Leben mit Dingen verplempert, an die er nicht oder nur halbherzig glaubt, und den Rest der Zeit damit verbringt, sich Alibis und bequeme Gründe und mentale Schutzschirme zurechtzubasteln."

Ungleich dünner gibt es Ian McEwan in seinem Roman "Amsterdam", doch steckt in diesem Bändchen Sprengkraft. Zwei ehemalige Liebhaber von Molly Lane treffen sich bei deren Beerdigung, Clive der Journalist und Vernon der Komponist. Beide haben mit Molly die bewegten letzten 20 Jahre verbracht, Illusionen verloren und Bedeutung und Reputation gewonnen. Ian McEwan porträtiert in den beiden scharf und mit Emotion auch einen gesellschaftlichen Wandel: "Außer ihm fehlte sie keinem hier. Er sah sich unter seinen Mittrauernden um ... die in seinem Alter waren, in Mollys Alter ... Wie wohlhabend, wie einflußreich sie waren, wie sie prosperiert hatten unter einer Regierung, die sie beinahe 17 Jahre lang verachtet hatten! ,Talking 'bout my generation'. Diese Tatkraft, dieser unverschämte Dusel! Im Sozialstaat der Nachkriegszeit genährt von Milch und Honig des Staates, danach verwöhnt vom zaghaft-unschuldigen Wohlstand ihrer Eltern, mündig dann in einer Zeit der Vollbeschäftigung mit neuen Universitäten und bunten Taschenbüchern, dem augusteischen Zeitalter des Rock n'Roll, der erschwinglichen Ideale. Als die Leiter hinter ihnen bröckelte, als der Staat seine Zitzen verweigerte und zum Hausdrachen wurde, saßen sie schon im trockenen, konsolidierten sich und ließen sich häuslich nieder um dieses oder jenes zu bilden - Geschmack, Meinungen, Vermögen."

Molly läßt die beiden nicht nur in Trauer zurück, sondern entzweit und vereint sie letztlich wieder. Der postmortale Katalysator sind Fotos eines konservativen Politikers, der sich in Frauenkleidern im Schlafzimmer Mollys wohl und frei zu fühlen pflegte. Sie tauchen im Nachlaß auf, und mit ihnen die Frage: Soll der Politiker damit ruiniert, sollen die Konservativen ins Mark getroffen werden, oder ist die Veröffentlichung ein Verrat an den liberalen Grundsätzen, denen beide anhingen? Clive entscheidet sich für die Auflagensteigerung seiner unbedeutenden Zeitung, will Politik und zugleich ein gutes Geschäft machen und erreicht zuletzt genau das Gegenteil. Daß derlei Enthüllungen gern früher oder später in der einen oder anderen Form nach hinten losgehen, ist auch hierzulande längst bekannt, weshalb den Lesern und Fernschauern so manches vorenthalten wird, was die Journalisten längst wissen.

Doch auch für Vernon zählt das Menschenleben nichts, und für einen guten Einfall für seine Symphonie blickt er auch weg, wenn eine Frau mißhandelt wird. Eine tiefe Beziehung, die in beiden denselben Gedanken über das Ende des anderen reifen läßt. Beide ereilt schließlich dasselbe Schicksal, woran jeweils der andere die Schuld hat. Eine beißende Abrechnung mit einer Generation, der die Ideale verlorengingen.

Wir drei Roman von Andrea De Carlo, Diogenes Verlag, Zürich 1999, 662 Seiten, geb., öS 316.-/e 22,96

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