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KRITISCHE STIMMEN

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Auf die Entscheidungen des Nobelpreiskomitees in Stockholm pflegt in allen Jahren die Kritik der Presse zu folgen wie das Amen auf das Gebet in der Kirche. Die Preisverleihung des Jahres 1966 macht davon keine Ausnahme. Die Kritik ist möglicherweise etwas vorsichtiger und zurückhaltender, handelt es sich ja dennoch um eine seit 26 Jahren in Schweden ansässige Dichterin und verdienstvolle Übersetzerin schwedischer Lyrik, doch hie und da ist erkennbar — mehr zwischen als in den Zeilen ausgedrückt —, daß man auch diese Entscheidung als keine starke Entscheidung betrachtet.

Nelly Sachs ist eine bedeutende Lyrikerin und erfolgreiche Übersetzerin, doch bis vor wenigen Jahren kannte man sie kaum. Als Dichter und Schriftsteller wie Martin Buber, Pablo Neruda, Graham Greene und Andrė Malraux bereits auf den Vorschlagslisten der Königlich Schwedischen Akademie standen, wußte man noch nichts von ihr. Erst durch die Verleihung des Literaturpreises der Stadt Dortmund (der nun Nelly-Sachs-Preis heißt), des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, des Droste-Preises und verschiedener schwedischer Lyrikpreise wurde sie einem breiteren Publikum bekannt. Früher führte der Weg von der Berühmtheit oder von der Publikumswirkung zur öffentlichen Ehrung und zur Preisverleihung, in unseren Tagen führt der Weg oft von der Preisverleihung zur Publikumswirkung. In Schweden fanden ihre Übersetzungen der lyrischen Dichtungen Erik Lindegrens, Johannes Edfelts und Gunnar Ekelöfs naturgemäß große Wertschätzung, gewann man doch durch diese Übersetzungen Eingang in einen großen Sprachraum — es muß jedoch zweifellos etwas eigentümlich wirken, daß gerade jene drei Schriftsteller auf die Entscheidungen der Königlich Schwedischen Akademie den größten Einfluß haben dürften. Natürlich haben die Mitglieder der Akademie das Recht, sich auch einmal selbst zu ehren, geschieht das — wenn auch auf Umwegen— gleich mehrfach, dann hat man das Recht, nachdenklich zu werden.

Die Kritik der schwedischen Presse findet man diesmal in den Nebensätzen, wie etwa in der Feststellung, daß weder Strindberg noch Tolstoj, weder Maxim Gorkij noch Martin Buber, weder Neruda, Malraux, Dürrenmatt, Böll, Beckett, Durrel noch Mailer den Preis erhalten haben. Für einige der Genannten hätte die Preisverleihung möglicherweise sehr viel bedeuten können, so wählte man zwei alte Leute, deren Zeit vorbei ist.

Der zweite Träger des Nobelpreises in Literatur, Samuel Joseph Agnon, schreibt in Hebräisch, einer wenig bekannten Sprache, die keines der Mitglieder der Akademie beherrscht. Man hat hier also nur vom Hörensagen geurteilt und vom Urteil oder vom Können eines Übersetzers her, wie eine große schwedische Zeitung feststellt, und sie schließt daraus, daß die Wege der Preisverteilung unergründlich sind wie je zuvor.

Über jede Feder, die über diese Preisverteilung schreibt, fällt unabwendbar der schwere Schatten der Leiden des jüdischen Volkes, aber auch der Schatten der allgegenwärtigen Forderung nach Konformität. Überall verlangt man von dem schreibenden Menschen die Ausrichtung auf die vorherrschenden Auffassungen: Wer den Krieg in Vietnam verurteilt, wird im Handumdrehen zum Kommunisten gestempelt, wer die Beachtung des Lebensrechtes von Millionen heimatvertriebener Menschen fordert, die zufällig deutscher Herkunft sind, wird als Revanchist bezeichnet, wer die Wahl Agnons und der Nelly Sachs als eine schwache Wahl bezeichnet, gerät ebenso schnell in den Verdacht, ein Antisemit zu sein. So stark sind jene Kräfte, deren Opfer man gerade durch die heurige Wahl — neben anderen — ehren will.

Nelly Sachs schreibt in deutscher Sprache, doch sie betrachtet sich nicht mehr als Deutsche, sie ist auch keine Schwedin, obwohl sie seit einem Vierteljahrhundert in Schweden wohnt; durch ihre Wahl machte man eine Verbeugung vor dem Leiden des jüdischen Volkes, doch sie will weder als Deutsche noch als Schwedin noch als Jüdin bezeichnet werden, sondern nur als ein Mensch, der schwer am eigenen und an dem Leide der anderen getragen hat —• so sagte sie in Stockholm. Doch auf die in deutscher Sprache gestellten Fragen der eilends herbeigeeilten deutschen Reporter antwortete sie nur in schwedischer Sprache... Auch das wurde von den Schweden aufmerksam notiert.

Vielleicht sollte man ein für allemal zugeben, daß Nobelpreisträger auch nur Menschen sind, und zwar Menschen deutscher, hebräischer, schwedischer oder italienischer Zunge, je, wie die Würfel in Stockholm eben fallen. Es sollte nicht schwer sein, sich damit abzufinden, anstatt eine überirdische Klarheit und nationale Entmaterialisierung vorzutäuschen, die nirgends besteht und die kein Sterblicher jemals erreichen kann!

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