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Ad Honorem Sancti Marci

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Zum zweiten Male itand Igor Strawinsky, der heute Vierundsiebzigjährige, im Mittelpunkt des alljährlichen „Festivals zeitgenössischer Musik“, das ein integrierender Bestandteil der Biennal Venedigs geworden ist. Im Gegensatz zur Uraufführung seiner Oper ,,Th Rake's Progress“ vor ein paar Jahren im Teatro La Fenic handelt ei lieh diesmal um eine geistlich Musik, und wieder itand der Meister selbst am Pult. Der unüberwindliche Gegensatz Bühne — Kirch wurde noch unterstrichen durch die Kompositionsweise, die Strawinsky seinem neuen Werk, dem „Canticum sacrum ad honorem Sancti Marci n o m i n i i“, angedeihen ließ. Es huldigt in weiten Partien der seriellen Technik, der er sich erst in späten Jahren, vor allem in seinem Septett, zugewendet hatte. Das bedingte, wie zu erwarten war, eine Strenge in der musikalischen Diktion, die dem Verständnis des Werkes Schwierigkeiten bereitet. Diese Schwierigkeiten fallen um so mehr ins Gewicht, als es sich um ein geistliches Werk handelt. War es doch zu allen Zeiten die schönste Aufgabe der religiösen Kunst, den Gläubigen zu erheben, ihm auf dem Wege über die Kunst zu helfen, das Ziel seines Glaubens zu veranschaulichen, ja, den Menschen überhaupt zum Glauben zu führen. Das „Canticum lacrum“ Strawinskys ist aber, im Gegensatz auch zu zahlreichen geistlichen Musiken der neueren Zeit, auch solchen, die die Zwölftontechnik benützen (wie z. B. Frank Martins Oratorium „Golgotha“), ein symbolträchtiges Werk voller Geheimnisse, gleichsam die künstlerische Abstraktion eines Vorganges, an dem der Meister uns nicht mehr teilnehmen läßt, den er selbst bereits vor der Niederschrift vollzogen hat und dessen Ergebnil er in höchster Konzentration fixiert.

Nur manchmal noch leuchtet die alte byzantinische Pracht der Ikonen, die die „Basilica d'oro“ Venedigs, San Marco, die Stätte der Uraufführung, bis in unsere Tage hinübergerettet hat, in dem „Geistlichen Lied“ Strawinskys auf. Niemand konnte erwarten, daß Strawinsky mit dem neuen Lobgesang zu Ehren des Apostels Markus, des Schutzheiligen von Venedig, den er selbst mit Orchester und Chor des Teatro La Fenice und den beiden ausgezeichneten Solisten Richard Lewis (Tenor) und Gerard Souzay (Bariton) mit der unaufdringlich-bedeutsamen Geste des Wissenden zum ersten Erklingen brachte, etwa zur heidnischen Wildheit seines „Sacre“ oder zur apollinischen Schönheit des „Apollon“ zurückkehren würde. Bereits die „Messe“ des Jahres 1947 hatte viel zu eindeutig die geistige Richtung des Alters umrissen: die Abstraktion als Spiegel der Zusammenfassung historischer und persönlicher Erkenntnisse.

In fünf Teilen auf Texte aus dem Alten und Neuen Testament der Vulgata wird das Amt des Apostels, jeglicher Kreatur das Evangelium zu predigen, gefeiert. Fünf Kuppeln sind es auch, die den Dom behüten. Und sie entsprechen in architektonischer Strenge auch in der Musik einander. Im Mittelpunkt steht die Dreiheit der christlichen Tugenden Liebe, Glaube und Hoffnung. Ihrer zentralen Stellung entspricht die Zusammenfassung der musikalischen Mittel, wenn Chor und Soli, die in den beiden Ecksätzen nur getrennt erscheinen, sich vereinen und auch bisher ausgesparte Instrumente erklingen. — „Canticum sacrum“ ist dal Werk eines vor der Vollendung stehenden Meisters, der ganz offenbar das Echo nicht mehr benötigt. Er steht, in seiner Kunst und als gläubiger Mensch, jenseits der Welt der Brücken und der Hilfe in ihrer Bedürftigkeit. Vielleicht ist es das Dokument eines ganz persönlichen Bekenntnisses, das, gleich einigen Spätwerken Bachs, lieh dem verständlichen Wunsche der Welt, teilnehmen zu können, entzieht.

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