6646621-1958_27_15.jpg
Digital In Arbeit

Eine Stadt begeht ihren 800. Geburtstag

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn eine Stadt wie München eine Jahrhundertfeier begeht, so ist es nicht das gleiche wie das Jubiläum einer anderen Stadt. Denn ' München ist mehr als nur die Heimat eines konservativen, toleranten und herb-charmanten Menschenschlages. München ist so etwas wie ein abendländisches Gemeingut. In einer spröderen, zugleich aber romantischeren Form hat es etwas vom Fluidum der beiden Weltstädte, in deren Mitte es liegt: Paris und Wien. Geistige Regsamkeit und die Kunst des Laisser faire, lokale Eigenwertigkeit und übernationale Verbindlichkeit, gesunder Instinkt und zugleich eine gute Portion Illusionismus, das alles sind Wesenselemente dieser Stadt, die wie keine andere deutsche Stadt die Fremden anlockt und vielfach für den Rest des Lebens ganz an sich zu binden vermag. Kein Wunder, daß dieser Geburtstag die Herzen vieler Europäer, ja heute sogar auch vieler Amerikaner, höher schlagen läßt.

Das schönste Geschenk, das die Stadt ihren Bürgern bereitet hatte, war die Wiedereröffnung des Cuvilliesschen Alten Residenztheaters. Dieses liebenswürdige architektonische Kleinod des Rokokos war während des letzten Krieges mühevoll abgebaut und stückweise evakuiert worden. Ein Teil blieb auf seinem ländlichen Depositum gut erhalten, ein anderer Teil wurde das Opfer von Witterungsschäden, so daß man lange Zeit im Zweifel war, ob der Theaterbau jemals wiedererstehen würde. Das Bedürfnis nach Restauration zerstörter Bauwerke hat jedoch nach dem Kriege zahlreiche Kunsthandwerker und Stukkateure zu einer eingehenden Beschäftigung mit den Arbeitsweisen vergangener Jahrhunderte inspiriert, so daß es heute eine ganze Gilde sachkundiger Rokokorestaurateure gibt. Erfreulich, zu hören, daß sich auch gerade viele junge Kunsthandwerker mit Begeisterung dieser Aufgabe zugewandt haben, obwohl ihnen die Industrie weit größere finanzielle Möglichkeiten zu bieten hat. Ihnen allen dankt München die Wiedererstehung seines Rokokoherzstückes, ebenso wie dem früheren Präsidenten der Schlösserverwaltung, Prof. Esterer, dem Ministerialrat Wunschel und dem Baudirektor Sepp Huf, dem die Ausführung des Auftrages oblag. Man hat sich im übrigen weitgehend an die Urform dieses schönsten deutschen Theaterbaues gehalten und somit die Veränderungen des 19. Jahrhunderts größtenteils wieder rückgängig gemacht. Das Cu-villiestheater mit seinen elfenbeinernen Stukkaturen, seinen reichen Goldverzierungen und der dezent roten Besannun konnte nicht sinnvoller wiedereingeweiht werden als mit einer meisterhaften Aufführung von Mozarts „Figaros Hochzeit“ unter der Leitung Ferenc Fricsays.

München war nicht nur durch das Cuvilliestheater einer der Mittelpunkte' des europäischen Rokokos. Auch die Schlösser, Klöster und Kirchen in Münchens Umgebung — man denke nur an die Amalienburg im Nymphenburger Park und an die Kirche zur Wies — rechtfertigen es vollauf, daß der Europarat für seine umfassende Rokokoschau die bayrische Landeshauptstadt auswählte. Nachdem Brüssel eine Ausstellung europäischer Geistigkeit im Zeitalter des Humanismus, Amsterdam eine Schau des Manierismus und Rom eine Barockausstellung beherbergten, erlaubt die Münchner Ausstellung „Europäisches Rokoko“ von der Malerei über die Gobelinweberei bis zum Kunsthandwerk und zur wissenschaftlichen Aktivität, etwa der Enzyklopädisten, eine erschöpfende Begegnung mit dem Geist und mit dem Schaffen des 18. Jahrhunderts. Kulturgeschichtlich ausgezeichnet gegliedert und geschmackvoll präsentiert, wird in dem Geviert rings um den Brunnenhof der Münchner Residenz das kultivierte und beschauliche, geistvolle und verspielte lahrhundert vor den Stürmen der Französischen Revolution lebendig. Diderots Enzyklopädie und die mechanischen Konstruktionen jener Epoche machen den Anfang. In den Gemälden der Madame Vigee-Lebrun, Bouchers, Fragonards, Nattiers und vor allem Watteaus wird die subtile Kultiviertheit des französischen Hofes spurbar, die zur Zeit des „Ancien Regime“ trotz der drohenden politischen Gewitterwolken Vorbild für ganz Europa gewesen ist. Auch Watteaus Meisterwerk, das „Firmenschild des Kunsthändlers Gersaint“, mit den bilderbetrachtenden Damen und Kavalieren, ist in der Münchner Schau zu sehen. Den Zug des Bürgertums zu beschaulich bescheidener Lebenshaltung spiegeln wiederum zum Beispiel die Bilder Liotards wider. Und Englands Meister, wie Reynolds und Hogarth, sind ebenso vertreten wie der farbenfrohe Italiener Tiepolo und die venezianischen Vedutenmaler um Canaletto und Beiotto oder Chodowiecki mit seinen Interieurs.

Wer jedenfalls in dieser reichhaltigen und geschmackvollen Ausstellung länger verweilt, dessen Verstand mag vielleicht daran herumrätseln, wie denn diese Zeit Vorstufe zu den revolutionären Umwälzungen der Jakobinerherrschaft sein konnte — seine Seele aber hat bei der Begegnung mit dem Rokoko Schwingungen vernommen, die an Anmut und Feinheit in unseren Tagen ihresgleichen suchen müssen. Gewiß ist aber, daß das geistige Fluidum Münchens dem.. Geist des Rpkcselkst im ZßjJaJtejjes Ajonjjj und.der Skepsis immernoch näher ist als das. Klima der meisten anderen Kulturmetropolen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung