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ERBE EINER GROSSEN ZEIT

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Wie der Lebenstaumel eines dem Tod Entronnenen bricht in dem Land, das am längsten unter der Verwüstung und Verödung des Dreißigjährigen Krieges gelitten hatte, der Barock als Lust an Form, Licht und Farbe auf. Skulpturen voll Erregung und Leidenschaft markieren das späte Aufflammen dieses letzten gesamteuropäischen Lebensgefühls und Kulturausdrucks im böhmisch-mährischen Land. Die Schlösser der Lofokowitz und Kinski prangen wie Kronen auf den Hügeln, prächtige Wallfahrtskirchen und Klöster öffnen sich in großer Zahl einem religiösen Volk, der heilige Johann von Nepomuk wacht in tausendfacher Gestalt an Brücken und Straßen: Zeugen eines Lebensstils, der im Lauf von zwei Jahrhunderten ganz Europa erfaßt und in den habsburgischen Ländern seinen letzten grandiosen Ausdruck und spezielle Ausformung gefunden hat.

Nach Wien richtet sich Europas Blick, als der Sieg über die Türken errungen ist und die Habsburger Residenz eine Pracht entfaltet, die selbst mit dem Paris der großen Zeit Ludwigs XIV. wetteifern kann. In Wien bauen die kaiserlichen Architekten Fischer von Erlach und Hildebrandt — Schüler der italienischen Barockbaumeister Bernini, Boro-mini, Guarini — die Karlskirche und das Belvedere, von Wien aus wird der habsburgische Barock von Baumeistern und Bauherren nach Prag getragen, an die Landsitze des Adels und die Ordensniederlassungen in Böhmen und Mähren. Mit neu erwachter Vitalität nimmt das Land die künstlerischen Impulse auf, formt sie nach eigenem Lebensgefühl, so daß im Verlauf einer einzigen schöpferischen Generation von Architekten, Malern, Bildhauern und Gärtnern zu Beginn des 18. Jahrhunderts der böhmisch-mährische Barock aufblüht und das Bild des Landes prägt.

Die vielen Schlösser des böhmischen Adels, die als harmonische Ergänzungen der Natur die Hügel des Landes krönen oder in seinen Senken ruhen, verbreiten noch heute eine Atmosphäre des Glanzes, der Pracht und Wohlhabenheit. Trotz individueller Ausformung durch die mehr von Italien, Frankreich oder Wien beeinflußten Baumeister im mathematisch-rationalistischen oder mehr sensuell-pathetischen Sinn verbindet ein Stilelement die noch so verschiedenen Bauten: Allen gemeinsam ist der Typus des Flügelbaus mit symmetrischem Konzept.

Im ostböhmischen Schloß Chlumek, im mittelböhmischen Veltrusy oder südmährischen Buchlovice dominiert der Zentralpavillon — oval, rund oder konkav gebuchtet — als Mittelpunkt aller gesellschaftlichen Zeremonien und Dispositionen über ausladenden Seitentrakten. Von vorn zeremo-niös mit Concour d' honneur und pathetischer Freitreppe (im Schloß Veltrusy mit prächtigen Plastikgruppen des österreichischen Steinmetz Franz Anton Kuen geschmückt), rückwärts durch intime Terrassen und Stiegen mit weiten Parkanlagen verbunden. Die Grafen Chotek von Veltrusy konnten den Direktor der kaiserlichen Gärten in Schönbrunn, R. van der Schott, höchstpersönlich mit der Anlage ihres Parks betrauen. Der Schloßpark von Buchlovice ging gegen Ende des 18. Jahrhunderts in den Besitz des naturwissenschaftlich interessierten Grafen Berchtold über und wurde zu einem botanischen Garten der mitteleuropäischen Vegetation ausgebaut, der noch heute als Ziel naturwissenschaftlicher Exkursionen übernationale Bedeutung hat.

Alte Kastellane erzählen noch mit leisem Stolz vom großzügigen Lebensstil ihrer ehemaligen Herrschaften, vom Grafen Kinski, der auf seinem Schloß Chlumek, „Karlskrone“ genannt, hoch zu Pferd in den Hauptsaai im ersten Stock geritten sein soll, von der historischen Begegnung der österreichischen und russischen Außenminister am 16. und 17. August 1908 auf Schloß Buchlovice, vom Besuch der Kaiserin Maria Theresia in Schloß Veltrusy, das dem Grafen Chotek gehörte, Finanzminister der Kaiserin, Mitglied des Ordens vom Goldenen Vlies.

Der Eintritt in ein „Maria-Theresien-Zimmer“ — mit Porträts der kaiserlichen Familie geschmückt — ist immer noch ein Höhepunkt der Führungen durch die Schlösser, die heute in Staatsbesitz sind, und zumeist als Museen adaptiert sich als Schatzkammern des europäischen Barock erweisen: Das Mobilar aus Holland, der Gobfoelin aus Brüssel, das Porzellan aus Meißen oder Wien, Delft-Fayencen, englische Uhren, böhmische Spiegel.

Es gehört zum Bild der nach Grenzenlosigkeit strebenden Epoche, daß viele Entwürfe für Schlösser, Klöster, Stadtanlagen nie über Baupläne und Grundriß hinausgekommen sind, weil sie viel zu umfangreich konzipiert waren, irreal von vornherein. Dem unvollendeten Eskorial begegnet man in Madrid und Klosterneuburg, im Olmützer Kloster Klasterni Hradisko, im ostböhrnisehen Hospital Kuks oder in Schloß Buchlovice, dessen weit umfangreicher geplantes Ideal in einem Deckenmedaillon über dem Hauptsaal angedeutet ist.

Die grandiose Komposition der Grafen Spork in Kuks dagegen — mit Hospital, Kirche, Schloß, Badeanlagen und weitem Park — ist tatsächlich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts fast zur Gänze ausgeführt worden, doch heute leider nicht mehr zu sehen, weil Schloß und Bäder 1904 abgebrannt sind. Dennoch zählt Kuks mit seinen Platikgalerien der sieben Tugenden und sieben Laster von Matthias Bernhard Braun zu den bedeutendsten Barockstätten Böhmens.

Durch den alle Bildhauermaterialien (Holz, Sandstein, Marmor und Stuck) beherrschenden Meister, der aus dem Tiroler ötztal stammte und seine Lehrjahre in Italien verbracht hatte, dringen in die böhmische Bildhauerei Elemente von solcher Dramatik und Leidenschaft, wie sie in anderen Barocketappen und -räumen kaum zu finden sind. Brauns ekstatische Skulpturen, die durch das überraschende Spiel von Licht und Schatten ins Entkörperte und Schwerelose entfesselt scheinen, unterliegen jedoch tatsächlich einer festen Kompositionsordnung und Konzentration, die den Einfluß von Bernini und Michelangelo klar erkennen lassen: Die S-förmigen Wellenlinien (Michelangelos linea serpentinata), die ein Netz gedachter schiefer Linien und Dreiecke durchläuft, bestimmt Grenze und Gesetz seiner meisterhaften Modulationen von Zorn und Sanftmut, Faulheit und Eifer, Leichtsinn und Weisheit, Unglaube und Frömmigkeit.

Der bewegten Frömmigkeit des Barockzeitalters werden in Klöstern und Kirchen prächtige Wirkungsräume gebaut, in ungezählten Statuen und Wegkreuzen Zeichen gesetzt. Den ersten Jesuitenbauten der Gegenreformation mit ihrem kühlen, böhmischer Mentalität fremden Prunk nach italienischem Stil folgen bald die sensuell geprägteren Kirchen und Klöster der einheimisch gewordenen Architektenfamilien Dien-zenhofer, Santini, Tencala. Doch gerade in diesen Sakralbauten bleiben die Einflüsse des italienischen „Jesuitenstils“ ausgeprägter: In der Hospitalkirche von Kuks, nach den Entwürfen von Aliprandi, in der Wallfahrtskirche auf dem Kopecek („Heiliger Berg“) bei Olmütz von Giovanni Pietro Tencala oder auch im Zisterzienserkloster von Zdar, das die Baumeisterfamilie Santini auf der böhmisch-mährischen Höhe errichtet und ausgeschmückt hat.

Heute sind die Konvente ausnahmslos aufgehoben, die Klöster als Museen und Archive benutzt, die Kirchen oft verwaist. Aber gerade der Barockraum verlangt in seinem künstlerischen Konzept nach Leben wie die Bühne nach dem Schauspiel; der sakrale Barockbau kann sein grandioses Pathos nur voll entfalten als Teil des großen Welttheaters, als Szenerie für das liturgische Schauspiel vor einem ergriffenen Publikum. Seiner ursprünglichen Funktion entkleidet, bleibt nur eine museale Hülse, wird er unfähig, seihe volle Wirkungsmöglichkeit selbst als Kunstwerk zu entfalten — trotz Blumendekorationen auf dem leeren Altar der Hospitalkirche in Kuks, trotz der Orgelkonzerte in der St.-Niklas-Kirche in Prag.

Die Wegkreuze, Heiligenstatuen und Mariensäulen auf den Straßen und Plätzen des Landes leben, oft von namenlosen Künstlern errichtet, zuweilen mit ungelenker Hand ausgebessert, mit frischen Blumen geschmückt. Sie halten das böhmisch-mährische Barockerbe am unmittelbarsten lebendig.

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