Das MUMOK fokussiert mit seiner Ausstellung über Mathematik in der Kunst die analytische Seite des kreativen Prozesses.
Hierzulande zeigt sich die Kunst, die auch international als genuin österreichische Erfindung anerkannt wird, gerne in barock üppiger und expressiv wilder Manier. Als Inbegriff der künstlerischen Tätigkeit gilt der mit Pinsel, Zeichenstift oder mit Hammer und Meißel ausgeführte kreative Urschrei. Das Konzept der Romantik vom Künstlergenie paarte sich mit dem gesellschaftlichen Auftrag, die brave Spießbürgerschaft zu unterlaufen. Jenem Teil, der sich einer analytisch berechnenden Seite des Kunstschaffens verschrieben hat, gönnte und gönnt man dagegen ehe geringere Aufmerksamkeit. Und was hierzulande gilt, das überträgt man der Einfachheit halber auch gerne auf die Kunst insgesamt. Dass diese einseitige Bewertung zu Unrecht vollzogen wird, lässt sich ganz genau, und deshalb anders als gewohnt, derzeit im Museum für Moderne Kunst in Wien anschauen.
Die Zahl als Basis der Welt
Bereits die Pythagoräer hatten ab dem sechsten Jahrhundert vor Christus das Universum als ein Kunstwerk verstanden, das auf der Zahl Zehn aufgebaut ist. "Eins - der Punkt; zwei - die Linie, drei - die Fläche, vier - der Raum: Damit hast du die Welt verstanden", lautete ihr Motto. Zählt man eins, zwei, drei und vier zusammen, so erhält man die Wunderzahl Zehn. Vor allem für die Musik, aber auch für die Baukunst entwickelte sich darin ein perfekter Raster der künstlerischen Welterklärung, der freilich mit den dazu passenden Götterfiguren versehen war.
Spätestens seit der Renaissance, mit der die Ausstellung in ihren Exponaten einsetzt, erreicht das ernste Spiel mit den Zahlen - vor allem im Zusammenhang mit der kompositorischen Gestaltung von Bildgründen - einen ersten Höhepunkt. Paradigmatisch ablesbar an Dürers "Melencolia I" von 1514. Dürer zeigt alles klar, perfekt durchorganisiert mit Hilfe der scheinbar untrüglichen Methode der Zentralperspektive. Und dennoch bleibt das Bild rätselhaft, nicht in die Einfachheit von Schlagwörtern auflösbar.
Dürer treibt das Zahlenspiel weiter, denn die Summe der Zahlenreihen auf dem integrierten "magischen Quadrat" ergibt immer 34, wobei die einzelnen Reihen so ganz nebenbei das Entstehungsjahr, das gleichzeitig das Todesjahr der Mutter war, angibt. Die Zahlen, deren Beherrschung der Renaissancekünstler als "universaler Mensch" von den Mathematikern lernen konnte, eröffnete die Möglichkeit zu perfekten Bildfindungen, die offensichtlich in ihrer Makellosigkeit neue Fragen aufwarfen.
Von Zahlen zu Bildern
Die Grundfrage, ob die Menschen die mathematischen Berechnung von der Natur zugetragen bekommen oder ob diese umgekehrt der Natur vom Menschen aufgedrängt werden, spitzte sich in der Folgezeit immer mehr zu. Das Problem vereinte Mathematiker und Kunstschaffende. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts revolutionierte Paul Cézanne im Verband mit seinen Kollegen die Malerei unter einer einfachen Maxime. "Alles in der Natur modelliert sich wie Kugel, Kegel und Zylinder; man muss auf Grund dieser einfachen Formen malen lernen, dann wird man alles machen können, was man will." Der Vorwurf, er würde die Natur verachten, folgte auf den Fuß, wenngleich es kaum einen glühenderen Verehrer der Natur als Cézanne gab.
Nicht nur die Kubisten
Spätestens bei den Kubisten änderte sich diese Sichtweise, Juan Gris drehte den Spieß um, wenn er bemerkt: "Cézanne macht aus einer Flasche einen Zylinder, ich hingegen gehe von einem Zylinder aus, um ein Einzelding von einem besonderen Typus zu schaffen; aus einem Zylinder mache ich eine Flasche." In analoger Weise "erfand" sich Kasimir Malewitsch sein "Schwarzes Quadrat" als neuen Nullpunkt, von dem aus eine neue Kunst zu schaffen wäre, er nannte sie Suprematismus. In Holland propagierte die Gruppe de Stijl einen ähnlichen Konstruktivismus, einen späten Höhepunkt spielten die Minimal Art und die Konzeptkunst in den 1960er und 1970er Jahren durch.
Aber nicht nur die in ihren geometrisierenden Formen offensichtlich mathematisch geprägten Kunststile bedienten sich der Zahlen. "Arithmetik! Algebra! Geometrie! Grandiose Dreifaltigkeit, leuchtendes Dreieck! Wer euch nicht gekannt hat, ist ein armer Wicht!", dichtete der Haus- und Hofpoet der Surrealisten, Lautréamont. Der Parcours, den die Ausstellung "Genau und anders" bietet, ermöglicht es, tief einzutauchen in die zu unrecht randständige Verbindung von Mathematik und Kunst.
Esther Stocker ist in der Hauptausstellung mit ihrer den Raum analysierenden Malerei vertreten und hat in der Factory ein Labyrinth aus Stäben installiert. Ihre Analysen des Raumes, die von der Annahme ausgehen, dass wir eigentlich nichts über den Raum wissen, bieten gebrochene Systeme an. Der allgemeine Raum, in den Stocker ihre definierten Räume hineinstellt, lässt uns im Stich und verunmöglicht daher auch die Klarheit des definierten Raumes.
Genau+anders
Mathematik in der Kunst
von Dürer bis Sol LeWitt
MUMOK
Museumsplatz 1, 1070 Wien
Bis 18. 5. Mo-So 10-18, Do 10-21 h
Katalog: Wolfgang Drechsler (Hg.), Genau und anders. Mathematik in der Kunst von Dürer bis Sol LeWitt, Nürnberg 2008, 160 S., € 29,-
Esther Stocker
geometrisch betrachtet
MUMOK Factory
Museumsplatz 1, 1070 Wien
Bis 6. 4. Mo-So 10-18, Do 10-21 h
Katalog: Rainer Fuchs, Hg.), Esther Stocker, geometrisch betrachtet, Nürnberg 2008, 112 S., € 22,-
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