Sensation im Toleranzwinkel

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Österreich war Vorbild für die erste Landesausstellung in Sachsen: "Zeit und Ewigkeit" im 750 Jahre alten St. Marienstern.

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Österreich war Vorbild für die erste Landesausstellung in Sachsen: "Zeit und Ewigkeit" im 750 Jahre alten St. Marienstern.

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Wir rechnen mit 320.000 Besuchern, bis wir am 18. Oktober schließen", bemerkt die Dame von der Ausstellungsleitung. Die erste Landesausstellung in Sachsen: "Zeit und Ewigkeit - 128 Tage St. Marienstern" wurde nach langjährigen Erfahrungen in einigen österreichischen Bundesländern und in Bayern konzipiert - die allerdings solche Besucherströme kaum je erreicht haben. Es trägt nicht viel zur Erklärung des Andrangs bei, daß die sächsischen Sparkassen den Transport und Informationsmaterial für 1.000 sächsische Schulklassen finanziert haben. "Es gibt großen Nachhol-Bedarf an Regional-Geschichte." Das mag die Anreise vieler Busse erklären, die Menschen aller Schichten aus der näheren und weiteren Umgebung bringen. Bei Führungen muß allerdings vieles aus dem religiösen Leben erklärt werden, was früher Allgemeingut war. Man schätzt, daß 80 Prozent der Besucher nicht getauft sind!

750 Jahre St. Marienstern, 900 Jahre Zisterzienser-Orden, das sind die Anlässe zur Ausstellung. Für speziell Interessierte ist es der Reiz, nie Gesehenes erblicken zu dürfen. Die Nonnen hatten sich zwar immer ihrer obersten Regel "Ora et labora" verpflichtet gefühlt, neben vielen Gebeten Landwirtschaft, Fischzucht und Handwerke betrieben und gelehrt, medizinische Hilfe geleistet, aber ihre Klausur eisern verschlossen gehalten. Welche Obrigkeit immer in der Lausitz herrschte: Hier war ihre Macht zu Ende. Die Aufhebung des Klosters in der DDR konnte dadurch abgewendet werden, daß man sich der Pflege geistig behinderter Kinder widmete. Das wollte sonst niemand tun. Doch die Schatzkammer blieb sogar Kunsthistorikern versperrt.

Es war im Sommer 1992, als das Salzburger Dommuseum die Ausstellung "Kostbarkeiten aus den Schatzkammern von Sachsen" zeigte. Hinter dem unverbindlichen Titel verbarg sich eine Sensation: Reliquiare und anderes Kultgerät vorwiegend aus dem 13. und 14. Jahrhundert, die nirgendwo beschrieben waren, die man in der Fachliteratur vergeblich suchte. Sie kamen aus den beiden Zisterzienserinnen-Abteien St. Marienstern und St. Marienthal, ergänzt aus Beständen der Bautzener Dom-Schatzkammer. Deren Leiter, Siegfried Seifert, und der damalige Direktor des Salzburger Dommuseums, Prälat Johannes Neuhardt, hatten nicht nur als "Türöffner" in die bis dahin ängstlich abgeschiedenen Nonnenklöster fungiert. Sie hatten auch ohne nennenswerte Literatur eine erste Beschreibung der Kostbarkeiten leisten müssen.

Bevor noch Kurfürst August der Starke die Konfession wechselte, um König von Polen zu werden und mitten im "Mutterland der Reformation" den Dresdner Hof katholisch machte, war die Lausitz, die während des Dreißigjährigen Krieges von Böhmen nach Sachsen "gewandert" war, ein Toleranzwinkel. Nachdem die Hussiten-Stürme im 15. Jahrhundert überstanden waren, trug man der Reformation Luthers Rechnung, indem etwa der Dom in Bautzen Simultankirche wurde. Noch heute finden Gottesdienste abwechselnd im katholischen und im evangelischen Teil statt. Noch um 1800 setzte die Äbtissin von St. Marienstern in den 60 Dörfern und zwei Städten ihrer Herrschaft auch die evangelischen Pfarrer ein. Ob es ein Zufall ist, daß im nahen Städtchen Kamenz der größte deutsche Dichter der Toleranz, Gotthold Ephraim Lessing, zur Welt kam?

Eine gute Autostunde von Dresden entfernt, liegt die Abtei St. Marienstern, von der Hauptstraße aus kaum zu sehen, in dem Dorf Panschwitz-Kuckau. Hat man sie aber entdeckt, leuchtet die hohe, frisch restaurierte Kirche mit dem Dachreiter (der bei den Zisterziensern den Turm ersetzt) in strahlendem Rot und Weiß. Was man im Kreuzgang und den vielen Räumen, die von ihm abgehen, zu sehen bekommt, sind nicht nur die ungeahnt prächtigen Kunstschätze des Klosters - wobei man sicher die Übertreibungen des Reliquienkultes heute mit gemischten Gefühlen betrachtet.

Die Zerstückelung der Heiligen: hier eine in Gold gefaßte Rippe, dort ein Zahn, der ein Meisterwerk der Goldschmiedekunst krönt - das scheint aus einer anderen Welt zu kommen. Um die Kunst- und Geistesgeschichte des Landes zu dokumentieren, wurden Objekte aus vielen Museen und Kirchen zusammengetragen. Ungewöhnlich etwa die "Maria in der Hoffnung", die in der "Kindswohnung unter dem Herzen" das Jesuskind trägt.

Die Übersicht reicht von den letzten Spuren der heidnischen Bewohner bis zu Auswüchsen des Glaubens, etwa beim Ablaß-Handel. Eine große Kiste, in der der Ablaß-Händler Tetzel Geld gesammelt hat, findet viel Aufmerksamkeit. Die mit Phantasie erstellte Vita des einzigen sächsischen Heiligen, Bischof Benno von Meißen, der 1525 heiliggesprochen wurde, hat ebenfalls Polemik und Spott Luthers angeregt ("Ein Gaukelspiel!"). Die Reliquien des Landespatrons ruhen heute in der Münchner Frauenkirche.

Die "Neuzeit" seit der Reformation wird im ehemaligen Gästehaus des Klosters dargestellt: "Vielfalt und Toleranz", das bedeutet die Entfaltung der sorbischen Minderheit zuerst durch die Übersetzung der Luther-Bibel in ihre Sprache, die damals mit allerlei polnischen und tschechischen Anleihen kodifiziert wurde. Heute findet man in der Lausitz allenthalben zweisprachige Aufschriften, und niemand nimmt daran Anstoß. Es wanderten auch viele aus Böhmen vertriebene Protestanten ein und wurden als wertvolle Arbeitskräfte begrüßt.

In der Lausitz fand die Herrnhuter Brüdergemeinde Aufnahme und konnte sich von hier aus entfalten - bis zur Missionstätigkeit des Bartholomäus Ziegenbalg in Indien (er hat das Neue Testament ins Tamilische übersetzt!). Aber es waren in der Oberlausitz auch so wunderliche Eiferer möglich wie der Pfarrer Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorf, der seinen Abscheu gegen "den wilden, unzüchtigen Tanzteufel" um 1700 in dem Buch "Tantz-Greuel" niederschrieb.

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