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Baltische Passion

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DER BEGRABENE ESEL. DAS LOGBUCH. Von Eva von Radecki. Mit einer Einleitung des Herausgebers Sigismund von Radecki. Verlag Heinz Burges in Köln. 543 Seiten. Preis 25 DM

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DER BEGRABENE ESEL. DAS LOGBUCH. Von Eva von Radecki. Mit einer Einleitung des Herausgebers Sigismund von Radecki. Verlag Heinz Burges in Köln. 543 Seiten. Preis 25 DM

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Sigismund von Radecki gilt seit langem als einer der besten lebenden deutschen Essayisten und Ueber- setzer aus dem Englischen und Russischen, dessen Sprachkunst zutiefst von Karl Kraus beeinflußt ist. Daß aber dieser große Könner des Wortes auch eine Schwester besaß, die nicht minder eine Künstlerin des Wortes war („war“: denn Eva von Radecki weilt schon lange nicht mehr unter den Lebenden), erfährt die Oeffentlichkeit erst jetzt, da ihr bereits berühmter Bruder einen stattlichen Sammelband ihrer Schriften herauszugeben sich entschloß.

Eva von Radecki wurde 1884 in Riga geboren und durchlebte ihre Kindheit in dieser schönen baltischen Stadt. 1901 übersiedelte sie mit ihren Eltern und Geschwistern nach Petersburg, und einige Jahre darauf nach Dorpat, dem Sitz der baltischen Universität. Von Kindheit an ist Eva von Radecki mit einer Rückgratverkrümmung behaftet, die trotz aller Behandlungen nicht besser, sondern nur schlechter wird. Zu diesem Leiden gesellt sich noch eine Knochentuberkulose und schließlich sogar eine Nierentuberkulose, die die Kranke zwingt, von 1915 bis zu ihrem Tode im Jahre 1920 das Bett zu hüten.

Schon früh hatte Eva von Radecki, die sich von den Krankheiten, die sie martern, niemals zerbrechen läßt, zu schreiben begonnen, Gedichte, Novellen, aber auch geschichtliche Abhandlungen. Seit dem Augenblick, da sie an das Bett gefesselt ist, führt sie regelmäßig Tagebuch, das in dem vorliegenden Band abgedruckt ist und das nicht nur ein Spiegelbild ihres eigenen Leidens, sondern vor allen .Dingen der baltischen Passion dieser Jahre wiedergibt. Denn es sind die Jahre, da das kaiserliche Rußland, in dem die Balten eine so große Rolle spielten, zusammenbricht, es sind die Jahre der bolschewistischen Revolution, die auf das Baltikum übergreift, es .sind die Jahre, da die „Befreiungen" einander ablösen, es sind die Jahre, da das baltische Deutschtum mit seiner eigenartigen sozialen Stellung den ersten tödlichen Schlag erhält. Zwar scheint durch die Wände des Krankenzimmers der Lärm der Welt nur gedämpft hereinzudringen, aber in Wirklichkeit registriert die von Natur und Krankheit aus übersensitive Eva von Radecki nur zu genau das Drama dieser Jahre und überliefert dadurch der Nachwelt ein plastisches Dokument dieser schrecklichen Zeit.

Neben diesem Tagebuch — es führt den Titel „Das Logbuch“ — enthält der Band noch einige Gedichte sowie Erzählungen. Verraten die Gedichte schon ein großes literarisches Talent, so schwingen sich die

Novellen zu außerordentlicher Meisterschaft empor. Besonders die Erzählungen „Der begrabene Esel" und „Krippenreiter“ hätten das Anrecht, in die große Literatur einzugehen.

Die deutsche Literatur der letzten Jahrzehnte weist eine große Reihe von Begabungen aus dem baltischen Raum auf. Es sei nur an die beiden Heiseier, an Bergengruen, an Bruno Goetz, an Manfred Kyber, an Vegesack, an Sigismund von Radecki, teilweise auch an Frank Thieß erinnert. Durch die Herausgabe der nachgelassenen Schriften Eva von Radeckis ist der Beitrag des Baltikums zur deutschen Literatur neuerlich erweitert worden.

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