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Bilder vom realen Post-Sowjet-Alltag

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Die Geschichte Rußlands seit dem Zusammenbrach der Sowjetunion hat mit einer Illusion aufgeräumt. Wer der Meinung war, auf den Trümmern einer Despotie entstehe sozusagen automatisch Freiheit und womöglich auch gleich ein pluralistischer Mehrparteienstaat mit Gewaltenteilung, funktionierenden Institutionen wie Verfassungs- und Verwaltungsgericht und so fort, und dies alles nur deshalb, weil man das Vorbild dafür in Form der westlichen Demokratien sozusagen vor Augen hat, wurde eines Schlechteren belehrt.

Statt Demokratie und Gerechtigkeit entstanden auf den Trümmern der Sowjetunion hauptsächlich Chaos, Machtkampf, Megakriminalität und Megaelend. Das alles weiß man längst. Aber man bekommt es selten so einprägsam und drastisch vor Augen geführt wie von dem in Rußland stationierten „Stern ”-Fotografen Hans-Jürgen Burkard. Eine Auswahl seiner Bilder brachte soeben der Mün -chener Verlag Schirmer/Mosel als Bildband heraus. Obwohl es das „Positive”, das man von den schreibenden und fotografierenden Registraturen des Weltgeschehens so gerne fordert, hier nur in homöopathischen Dosen bis gar nicht zu sehen gibt, handelt es sich um ein großartiges Dokument.

Apropos „Positives”... Die 1990 sorgsam auf Plastikbahnen gelegten Schädel von einigen der bis zu 7.000 Gefangenen, die Stalin 1937/38 in einem Vorort von Woronesch erschießen und in Gräben verscharren ließ, sind zwar ein grauenhaftes, aber ein positives Bild, es zeugt von Aufarbeitung der Geschichte und von der Pietät der Freiwilligen, welche die Überreste der Opfer ausgruben.

Spuren des Terrors: Noch ruhen gewaltige Mengen von Akten, ruhen die Schicksale der Stalin-Opfer in den KGB-Archiven, versehen mit dem Stempel „Aufbewahren für immer”. Spuren der totalen Gleichgültigkeit der Sowjetführer für die Natur: Bilder I

von einer Umweltvernichtung und Umweltvergiftung gigantischen Ausmaßes. Spuren der stalinistischen, aber auch schon Lenin keineswegs fremden Menschenverachtung: Das Gesicht eines Eskimo-Knaben vom Stamm der Nenzen, denen bereits die ersten Probebohrungen nach Erdgas die Lebensgrundlagen entzogen.

Dazu gehört aber auch das Bild der Bombenfliegerin Anna Jegorowa, die (bevor sie „Held der Sowjetunion” wurde) 20 Jahre lang um ihre Ehre kämpfen mußte, weil sie ein besonders schimpfliches Verbrechen begangen hatte - nämlich das, nachdem sie abgeschossen worden war, die deutsche Kriegsgefangenschaft zu überleben.

Dürfen, um auf die Frage nach dem Positiven zurückzukommen, die Torheiten des Moskauer Designers (oder ist er schon ein Stardesigner?) Andrej Bartenew, der „Schönheit in sinnlosen Dingen” sucht und seine Modelle in Kostümen aus Pappmache auf dem

Roten Platz aufmarschieren läßt, als positiv gelten? Oder bestenfalls als ambivalent angesichts der allenthalben herrschenden Not? Und wie stufen wir das Bild ein, auf dem die Männer vom Sicherheitsministerium (vormals KGB) einem zu Boden gedrückten mutmaßlichen Erpresser beim ersten Verhör das Mikrophon vors Gesicht halten? Dokument konsequenter Verbrechensbekämpfung? Oder eskalierender allgemeiner Verrohung?

Der Großteil des rassischen Elends (und des Elends der anderen GUS-Staaten) ist zweifellos hausgemacht. Den guten Bat, durch sofortige, übergangslose Freigabe der Preise (die in für viele unerreichbare Höhen entschwebten) und Löhne (deren Kaufkraft in den Keller sackte) schnell und sicher ins Paradies der Marktwirtschaft einzutreten, bezogen die russischen Wirtschaftspolitiker allerdings aus dem Westen, hauptsächlich aus Chicago. Da die Freigabe der Preise nur wenig an der monopolistischen Produktionsstruktur änderte und marktwirtschaftliches Denken auch keine Tradition hatte, waren die Folgen vorhersehbar. *

Die Folgen führt Hans-Jürgen Burkart im Bilde vor: Die alte Bettlerin vor der Moskauer McDonalds-Filiale, einer der größten der Welt. Die Not der Obdachlosen und der in den Suff Abgeglittenen - Bilder wie aus Maxim Gorkis „Nachtasyl”. Die Wut und Frustration hochdekorierter Veteranen auf dem Roten Platz.

Und Burkart führt vor, wie die Menschen der Realität ausweichen. Und überläßt es dem Retrachter seiner Bilder, welche dieser Fluchten wer am wenigsten unsympathisch findet. Er zeigt die Flucht in wüste Ausschweifungen und Prostitution. Er zeigt die Flucht in Nationalismus und Nazismus: Junge Männer mit Hakenkreuzabzeichen fordern die „Diktatur der Russen” und schießen (vorläufig noch) auf Pappkameraden. Er zeigt die Flucht in die stalinistische Nostalgie. Den jungen Mann mit dem Stalinbild vor dem geschlossenen Moskauer Leninmuseum. Die Georgier, die sich ein kleines Stalin-Mu-sum errichtet haben, mit einem auf Blumen gebetteten toten Stalin aus Wachs.

Eines der erschütterndsten Bildern dieses Buches: Ein eigentlich konventionelles Kinderbild. Ein hübscher Zehnjähriger mit Wollmütze. Es ist das Bild eines mehrfachen Mörders.

Wo bleibt nun wirklich das Positive in diesem schaurigen Bildband? Im Bild eines Nickelarbeiters in Norilsk, dessen Hüttenwerke nebst Nickel die höchste Krebsrate der Welt produzieren, und der doch weiterarbeitet? Im Glauben, zu dem ein Teil der Menschen wieder findet? In der Trauer, die sich in den Gesichtern der Menschen an der Bahre des ermordeten TV -Journalisten Wladislaw Listjew ausdrückt? Ein Buch der Fragezeichen.

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