7104694-1995_25_23.jpg
Digital In Arbeit

Das Ende der Briefkultur

Werbung
Werbung
Werbung

Vater Staat macht sich Sorgen, in diesem Falle berechtigte und ehrliche Sorgen. Wohin sind die Zeiten, da einer freudig dem Briefträger entgegenfieberte, unter mancherlei belanglosen Prospekten ein persönlich adressiertes Schreiben empfing und glücklich darüber war, daß da ein Mensch in der fernen oder nahen Welt an ihn gedacht und ihm ein paar Zeilen geschickt hatte.

Doch halt! Sind etwa Blümchen auf dem Umschlag? Ist der Absender auf dem Kuvert mysteriös? Fühlt sich der Brief voluminös an? In die freudige Erregung mischt sich, finsteres Mißtrauen säend, die Stimme des Innenministeriums ein. Vorsicht, nicht öffnen! Die Polizei verständigen! Die Beamten kommen prompt, sichtlich in Eile, denn man sollte gar nicht glauben, wie viele Leute heutzutage noch Liebesbriefe erhalten. Koffer mit detektivischen Apparaten haben sie gleich mitgebracht. Alle aus dem Baum! Fünf Minuten Krimi-Spannung. Dann Entwarnung. Der Brief enthält einen kleinen Blütenzweig aus dem Garten einer Freundin, die damit nur dankbar beweisen wollte, wie gut die vor zwei Jahren geschenkte Pflanze gediehen ist. Die Exekutive zieht ab, per Mobiltelefon schon zum nächsten dringenden Einsatz gerufen. Ein paar Dankesworte noch im Abgang. Man ist immerhin erleichtert und muß froh sein, daß der Staatsapparat hierzulande hilfreich ist.

Nichts ist explodiert, nichts ist zerstört. Oder doch? Vernichtet nämlich ist die Freude an diesem Brief. Nicht nur, weil ihn nicht der Empfänger, sondern ein kalter

Beamtenblick zuerst gelesen, weil notwendige Indiskretion ihn gewissermaßen entweiht hat. Zerstört ist die Freude an Briefen überhaupt. Hinsetzen hätte man sich wollen, an einem ruhigen Abend, und auf hübschem Papier mit Qualitäts-Füllfeder einen Dankgruß schreiben für die Aufmerksamkeit mit dem Blütenzweig, Neuigkeiten aus Heim, Beruf und Familie beifügen. Dazu ist jetzt die Lust endgültig verflogen. Ans Telefon also, rasch anrufen, erzählen was passiert ist, der Zweig unter Bomben-verdacht. Man wird dir gewiß keinen Blütengraß mehr schicken. Man wird dir überhaupt nicht mehr schreiben. Telefon oder Fax sind ja viel praktischer und nicht bombenverdächtig. Mag sein, wenn der „Lauschangriff” kommt, daß da einer mithört und den lateinischen Namen einer Blume notiert, weil er meint, dies sei der Code für ein kriminelles Vorhaben. Das wird sich aufklären, so wie der harmlose Blütenbrief.

Ihr verrückten Briefbomber! Ihr habt mehr zerfetzt als die Hände eurer Opfer! Ihr habt eine jahrhundertealte Kultur zerstört. Von den Aposteln, die ihren frühchristlichen Gemeinden lange Briefe schrieben bis zu

den gelehrten Staatsmännern und Dichtern, die in ihre Briefe die ganze Kunst einer Literatur und Überzeugungskraft legten. Was wären Biographien ohne die Briefzeugnisse berühmter Leute! Was wäre Liebe einst ohne die unter Satinschleifen aufbewahrten Liebesbriefe der Verehrer. Wo bliebe das Herzklopfen aller kunst- oder kitschvollen Bomane beim Empfang eines heimlichen Briefchens von der Hand der Geliebten! Wo blieben all die Zeugnisse lebenslanger Freundschaften in Briefen! Worin lägen Sorge und Freude von Müttern und Vätern, die ihren Kindern in langen Nächten Mahnung und Trost sendeten!

Freilich, der Niedergang der Briefkultur hat längst begonnen, ehe ihr der Terrorismus den Todesstoß versetzt. Die neue Informations-, Kommunikations- und Computergesellschaft mit ihren Kulturtechniken schreibt keine Briefe mehr.

Oder werden die Archäologen der Zukunft unter Betonbrocken einst noch ein rosarotes Kuvert ausgraben, einen Liebesbrief vom Ende des 20. Jahrhunderts? Ein bemerkenswertes Ausnahme-Dokument von großer Seltenheit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung