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Das Mädchen Anita

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In den ersten Tagen nach der italienischen Kriegserklärung fehlte es auf österreichischer Seite an Truppen, denn diese standen alle auf dem östlichen Kriegsschauplatz und konnten, von dort nur in tagelangen Fahrten an die neue Front befördert werden. Eine sehr geringe und schlecht bewaffnete Anzahl von Soldaten hielt damals die ersten Vorstöße der Italiener auf, und allenthalben spielten sich an den Uebergängen und in den Schluchten des Landes ähnliche Vorgänge, Umgehungen und schnelle Ueberfälle ab, wie wir hier einen zu beschreiben haben.

Eine kleine Gruppe unter dem Befehl eines Leutnants aus den innerösterreichischen Ländern namens Friedrich besetzte das Gebirge oberhalb Lausa und Duron. Der Leutnant schickte sogleich Patrouillen zu drei Mann aus und gab ihnen den Auftrag, das Gelände zu erkunden; die letzte Patrouille, die den Kamm entlang geschickt worden war, der das Tal in einem Bogen einschloß, brachte ein Mädchen mit und führte es dem Leutnant vor, es sei oberhalb der Stellung im Schatten einer Felswand aufgefunden worden, es verweigere jede Auskunft, es sei nur mit Gewalt mitzuführen gewesen. Der Leutnant betrachtete es, und weil es dunkle Haare und ein dunkles Gesicht und braune Augen hatte, glaubte er, der in dem Lande fremd war, es auf italienisch anreden zu müssen, er fragte es in dieser Sprache, ob es im Dorf unten daheim sei, das Mädchen sah ihn an und wie einer der Soldaten dazwischenfuhr und sagte: Sie gibt keine Auskunft! sah es blitzschnell auf diesen und richtete dann die erstaunten Augen wieder auf das Gesicht des Leutnants. — Ich habe Hunger, sagte es und zeigte auf die Brote.

Des Leutnants Gesicht erhellte sich, er wiederholte seine Frage in deutscher Sprache.

Ja, sagte das Mädchen, aber es ist niemand mehr unten, es sind alle fortgegangen.

Warum bist du nicht mit ihnen gegangen, fragte der Leutnant.

Ich habe nicht gewollt, gab das Mädchen zur Antwort. Mein Bruder ist fortgegangen, und es «hat ihtn geschadet. Wenn die anderen fortgegangen sind, werden sie zugrunde gehen. Ich will hierbleiben.

Es kann niemand hierbleiben, wenn der Krieg in das Tal kommt, sagte der Leutnant.

So hat dir niemand erzählt, daß da dahinter die Italiener stehen?

Das Mädchen stutzte und warf einen schnellen Blick auf den Leutnant, er bemerkte ihn nicht, weil er sich während der kuzen Handbewegung, mit der er auf das gegenüberliegende Gebirge zeigte, ein wenig abkehrte. Nun wendete er sich wieder zu dem Mädchen und fragte: Wie heißt du?

Anita Contrin, sagte das Mädchen. Mein Vater heißt Leon Contrin und mein Bruder heißt auch Leon Contrin. Wir Wohnen in Lausa und Duron.

Den Leutnant berührte die seltsame Art, in der das Mädchen auf seine Fragen antwortete. Er sagte: Wir werden dich dorthin schicken, wohin deine Leute gegangen sind. Hier kannst du nicht bleiben. Jetzt warte! Er ging weg, um einen Mann aufzurufen, er hatte gegen Nachmittag Meldungen aus dem nördlichen Tale einzuholen und wollte dem Boten das Mädchen mitgeben. Er kehrte zurück, um es dem Mädchen zu erklären, aber als er an den Platz kam, wo es gesessen hatte, war es verschwunden.

Als es dunkelte und der Leutnant bei jenen, die nicht außen standen, in der kleinen, flachen Grasmulde saß und sie alle schwiegen, hörten sie plötzlich den Anruf einer leisen Stimme, sie sprangen auf, aber schon stand Anita neben ihnen: nur der Leutnant hatte gesehen, wie sie aus dem Schatten des Felsens herausgeglitten war, nun ging sie auf ihn zu und sagte schnell:

Ich habe etwas gesehen! Sie zeigte in das Tal und auf das drüben schwarz aufsteigende Gebirge und sagte: Dort stehen die Italiener, habt ihr gesagt! — Sie beschrieb mit der Hand einen Bogen in der Luft und zeigte in den Rücken ihrer Stellung. — Sie sind dort und kommen von dort herunter, sagte sie.

Die Leute sagten, das sei nicht zu glauben, aber der Leutnant sagte: Gut. Du sagst es. Du bleibst jetzt da und läufst nicht wieder weg. Wir werden sehen, ob es wahr ist.

Das Mädchen wehrte sich heftig —, ihr müßt mich mitnehmen, sagte es, ihr werdet die Stelle allein nicht finden, ich muß sie euch zeigen, die Italiener rücken von drüben herauf, nehmt mich mit!

Der Leutnant überlegte und dann entschied er. Er gab den Befehl, daß die ganze Gruppe aufzubrechen habe.

Als sie durch die Höhle gekommen waren und jenseits in der Furche auseinandergingen und den schwach erhellten Hang überblicker konnten, zeigte sich, daß die Angaben Anitas richtig gewesen waren. Die Italiener krochen in kleinen Schwärmen vom Tal herauf, nur eine einzige Gruppe hatte sich auf eine kürzere Strecke genähert. Sie ging sorglos vor. es war zu erkennen, daß sie von einem Gegner nichts ahnte. Erst als sie sehr nahe gekommen war, gab der Leutnant Befehl zum Feuern —, da bewirkte dieser überraschende Widerstand, daß auch die anderen noch entfernten Gruppen haltmachten und in den tiefer gelegenen grünen Flächen verschwanden. Die vordersten Leute der Italiener waren gefallen, nur einer von ihnen schien zuerst unverwundet, weil er seinen Weg fortsetzte, langsam, als ob er auf vieles acht hätte; da hob er plötzlich die Hände und fiel vornüber aufs Gesicht.

Als der Leutnant beim Morgengrauen seine Leute zurückrief, um den Ausgang der Stellung zu sichern und zu besetzen, traf er vor der Höhle Anita an. Sie kniete vor einem der gefallenen Italiener am Boden, sie hatte ihn offenbar an diese Stelle getragen. Der Tote hatte weit offenstehende Augen, sie waren blau und leuchteten so sehr, daß es jeden erschrecken mußte, der sie ansah. Der Leutnant trat hinzu, das Mädchen hob den Kopf zu ihm, und dann schloß es dem gefallenen Soldaten die Augen. Der Leutnant sah in das Gesicht des Mädchens und dann in das des Toten, diesem fielen die braunen Haare über die Schläfen, sein Mund war ein wenig geöffnet, und er hatte jetzt, wo seine strengen Augen nicht mehr zu sehen waren, junge und weiche Züge. Der Leutnant erschrak aber plötzlich, es war ihm, als ob seine Augen irrten, er blickte von dem Toten auf Anita und von Anita auf den Toten. Das Mädchen zog ihn zu sich nieder und nahm seine Hände, und die Tränen flössen ihm über die Wangen. Der Leutnant sagte schnell und beinahe heftig, als ob er damit etwas abwehren wollte: — Du hast uns einen sehr großen Dienst erwiesen. — Das Mädchen schluchzte auf, aber dann wurde es still und sagte mit klarer Stimme: Das, das ist mein Bruder gewesen.

Aus „Das Tal von Lausa und Duron“. Verlag Langen-Müller, München.

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