7091701-1994_31_11.jpg
Digital In Arbeit

Der alte Mann am Flußufer

19451960198020002020

Gedanken eines alten Mannes auf einem Spaziergang durch sein Dorf zu einem ehemaligen Lieblingsplatz.

19451960198020002020

Gedanken eines alten Mannes auf einem Spaziergang durch sein Dorf zu einem ehemaligen Lieblingsplatz.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Sonne hatte ihn hinausgelockt. Er war alt und krank, und er war müde geworden. Er ging nicht mehr gerne aus. Was er zum Leben brauchte, brachten ihm freundliche Nachbarn. Oder der Pfarrer sandte Kinder, die ihn nach seinen Wünschen fragten. Aber die schickte er zumeist wieder weg. Es war, als ob er sie nicht gerne mit seinem Mißmut beschweren wollte. Aber nun war Frühjahr. Die Weiden waren gelbgrüne Wolken gegen den blauen Himmel. Das Erdreich war feucht und die ersten Blumen standen in den Wiesen. Am Flußufer war das Schilf zwar noch braun, aber, so hatte er von seinem Fenster aus zu sehen gemeint, drängten dazwischen sehr schmale, hellgrüne Triebe aufwärts zum Licht. Er hatte seinen Stock genommen und war vor sein kleines Haus, danach aber schräg hinüber und langsam, Schritt um Schritt, den schmalen Wiesenweg entlang zum Fluß gegangen.

Während des Gehens überlegte er, ob es zur Zeit seiner Jugend hier wohl mehr und vielfältiger Blumen gegeben habe als jetzt. Er schaute und sah Blumen genug. Nur war damals, das wußte er, nicht alles so einförmig gelb gewesen, sondern viel bunter und irgendwie fröhlicher, als hier und nun. Minuten später war er zum Fuß jenes niedrigen Erdhügels gekommen, den man vor Jahrhunderten sicherlich bloß wegen der Erhöhung des Bildstockes, der darauf stand, aufgeschüttet hatte. Man wollte während der Feldarbeit und zur Zeit des Mittagsläutens den Blick auf einem, wenn auch noch so kleinen und geringfügigen Heiligtum ruhen lassen. Für kurze Zeit wollte man mehr sehen als Arbeit und Mühsal.

Er beschloß, nicht hinaufzusteigen zu jenem weißgetünchten Mauerwerk, dessen Seiten Abbilder heiliger Männer trugen, und auf der Vorderseite die gemalte Monstranz, und darunter die Worte: Sehet das Brot der Engel. Neben dem Bildstock stand zwar noch immer dieselbe altersschwache Bank, die er aus besseren Tagen gut kannte, aber genau von jener aus würde sein Blick über die Uferbäume reichen und er hätte die Fabrik vor sich, die er haßte, denn schließlich hatte ihm der Gemeindearzt vor nicht allzu langer Zeit gesagt, daß es wahrscheinlich der Rauch aus jenen hohen Schornsteinen ist, der die Lungen auch jüngerer Leute belastet, und bei ihm eben zu jenen Anfällen führt, während der er zu ersticken fürchtet, und dann müsse er immer rasch diese widerlichen Tropfen schlucken. So hielt er bloß einen Augenblick lang an, blickte zum Bildstock auf, bekreuzigte sich, und ging weiter.

ALLES HATTE SICH VERÄNDERT

Am Flußufer angekommen wußte er, daß es besser gewesen wäre, daheim zu bleiben. Die Bäume, die am gegenüberliegenden Ufer einen schmalen Streifen Auwald bildeten, verwehrten ihm zwar den Blick auf die dahinterliegende Fabrik, aber das hier war nicht der Fluß seiner Jugend. Die Uferböschung hatte man mit Steinen befestigt und er machte sich Vorwürfe, zu wenig' gedacht zu haben. Das Schilf stand bloß an jenen Stellen, an welchen losgerissene Steine das darunterliegende Erdreich freigegeben hatten. Das Wasser war grauschwarz. Fische, so wußte er, hatte man hier schon während einiger Jahre nicht mehr gefangen. Die Zeitungen berichteten zwar immer wieder über angestrebte Verbesserungen. Mag sein, sagte er sich, daß es hier vor drei oder vier Jahren noch schlechter war als jetzt.

Er ging den Uferweg entlang bis zu einer anderen Sitzbank die er kannte, und die vor Jahrzehnten für Sommergäste aufgestellt worden war. Aber nun kamen schon lange keine mehr. Die Stadt hatte sich ausgebreitet. Das Dorf lag zu nahe. Er kam zur Bank und setzte sich. Er dachte an seine Kindheit und daß es damals Familien aus der Stadt gegeben hatte, die zu Sommerbeginn in die eine oder andere Sommerwohnung im Ort übersiedelt waren, und oft hatte er damals mit jenen immer zu warm, zu unpraktisch gekleideten, von Dienstmädchen beaufsichtigten Stadtkindern hier am Ufer gespielt.

Er schloß die Augen und dachte an seine eigenen Kinder, die irgendwo lebten und kaum je schrieben, und an seine Frau, die schon lange tot war. Der hätten sie vielleicht öfter geschrieben als ihm. Er überlegte, daß die großen Familien seiner Jugend der Vergangenheit angehörten, und mußte an jenen Noah denken, von dem der Pfarrer an einem der vergangenen Sonntage erzählt hatte, daß der ein gerechter Mann gewesen sei, den Gott retten wollte, ihn und dessen Familie, sowie die Tiere dieser Erde, während alle anderen Menschen wegen ihrer Bosheit in der Wasserflut sterben sollten.

Der alte Mann auf der Bank am Flußufer öffnete wieder die Augen. Er blickte über den Fluß. Hinter den Uferbäumen stiegen graubraune Rauchschwaden auf.

Sie trieben genau zum Fluß her und er dachte plötzlich, daß eine Sintflut nicht immer Wasser sein muß. Er überlegte, wen Gott wohl diesmal retten würde.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung