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Der Einzelne ist nicht ohnmächtig

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Wir hören heute so oft, gerade aus dem Munde junger Menschen, (laß es sinn- und zwecklos sei, in unserer Zeit der Massenorganisationen als einzelner etwas ausrichten zu wollen. Wer diese Ansicht als Entschuldigung für seine eigene Lauheit und Passivität vorbringt, möge aus der Geschichte eines italienischen Katholiken, des heute 3 3jährigen Danilo Dolci, eines anderen belehrt werden.

Ursprünglich wollte er Architekt werden. Doch als er bereits zwei Facharbeiten (über ,,Isostatische Strukturen“ und ,,Die Theorie des Eisenbetons“) veröffentlicht hatte, entsagte er einem aussichtsreichen bürgerlichen Beruf, um einer seit' langem dunkel verspürten Berufung zu folgen. Dolci hatte bereits Gedichte in einer Anthologie religiöser Poesie veröffentlicht. Aber all das erschien ihm jetzt zu schwärmerisch, „Worte sind Steine, wenn sie nur Worte bleiben ..so läßt sich seine damalige, Grundlage beschreiben, die ihn bewegte, Mitarbeiter von Don Zeno Šaltino zu werden, eines katholischen Priesters, der 1945 in den Baracken' des ehemaligen faschistischen Konzentrationslagers

Fossoli eine „Stadt Gottes“ gegründet hatte. Aber diese im Geiste des Urchristentums lebende Gemeinschaft erschien Dolci bald zu eng und auf sich bezogen. So trennte er sich freundschaftlich und ging allein „in die Wüste“.

Allerdings lag diese „Wüste“ in keinem anderen Erdteil, nicht einmal in einem anderen Land. Sie befand sich am Golf von Castellamare, der in den Reiseführern über Sizilien wegen „des herrlichen Ausblickes auf das Meer und der schönen, zum größten Teil noch unerforschten Küstengrotten" gepriesen wird. Dolci, dessen Vater vorübergehend Stationsvorsteher in dem an jenem „idyllischen Fleck Erde“ gelegenen Orte Trappeto gewesen war, wußte aus jenen Jahren, daß die Fischer und Bauern dieser Gegend so arm, wenn nicht noch ärmer waren wie die Nomaden Afrikas oder die Neger im Urwald Zentralafrikas Wir schreiben 1952, als der ungewöhnlich große, breitschultrige Mann mit dem Einuhrzug (bei sich hat er nur 30 Lire) in Trappeto ankommt. Auf dem Weg ins Dorf trifft er die beiden Fischer Paolini Russo und

Toni Alia, Sie sprechen ihn an, erkennen ihn von seinem. früheren Aufenthalt hey wieder und begleiten ihn in den Ort. Dort sitzen die meisten Fischer müßig im Schatten ihrer jämmerlichen Häuser, Sie scharen sich um den seltenen Besucher. „Was willst du hier?" fragt einer. Und er antwortet, etwas verlegen an seiner randlosen Brille rückend: „Ich will alles versuchen, um mit euch als Bruder bei Brüdern zu leben.“

„Welch ein Unsinn!“ sagt einer. „Du warst auf der Universität. Du kannst viel Geld verdienen."

„Das ist wahr", antwortete Dolci, „aber ich möchte lieber ein Armer unter Armen sein."

Natürlich will ihm das niemand glauben. Viele halten ihn zuerst für einen Spion einer auswärtigen Macht. Denn er geht den ganzen Tag umher und stellt den Leuten Fragen. Er will wissen: „Wieviel Jahre warst du in der Schule? Kannst du lesen und schreiben?’ Warst du je im Gefängnis? Was tust du an den Feiertagen? Lebst du nach den Geboten Gottes?" Also ist er vielleicht ein Abgesandter der Kirche? Dagegen spricht, daß er seinen Lebensunterhalt durch harte Taglöhnerarbeit verdient. Auch scheint der Priester des Ortes ihm eher ablehnend gegenüberzustehen. Und seit wann will ein Geistlicher erfahren: „Wie viele Leute schlafen bei euch in einem Zimmer? Habt ihr eine Wasserleitung? Wieviel verdienst du pro Jahr? Tun die politischen Parteien ihre Pflicht?"

Ein Kommunist also? Nein, das kann er .auch nicht sein. Denn wenn die Armen von Trappeto von „der Revolution“ träumen, die alles mit einem Schlage zum Guten wenden wird, hält er ihnen entgegen: „Ihr wollt alles hier ändern? Gut, einverstanden. Aber es kommt auf die Methode an. Wenn man Erbsen sät, kann man keine Fische ernten. Wenn wir Tod und Lüge säen, wird daraus niemals Leben wachsen."

Das Vertrauen . seiner neuen Mitbürger in Trappeto konnte Dolci erst wirklich gewinnen, als sich im Oktober 1952 etwas Außerordentliches ereignete: der Demarchen bei den Behörden müde geworden, die auf seine höchst präzisen Eingaben über das Elend in dieser Region Siziliens nur mit Ausflüchten geantwortet hatten, erklärt Dolci, er werde als Protest gegen die Harthörigkeit und Hartherzigkeit der offiziellen Stellen solange fasten, bis eine Summe von dreißig Millionen Lire zur Beseitigung der auffallendsten sozialen Mißstände in Trappeto bereitgestellt werde. Gleichzeitig schickt er einen Brief in die Welt, in dem er seine Beweggründe erklärt: „Letzten Winter habe ich einen Säugling mit meinen eigenen Augen an Hunger und Kälte sterben sehen. Es war nur ein Fall unter Hunderten anderer furchtbarer Fälle ... Bevor ein anderes kleines Kind aus Mangel an Nahrung sein Leben lassen muß, will ich es tun... Es gibt hier einen kleinen Fluß, dessen Wasser ungenutzt ins Meer rinnt. Würde man mit dem Bau von Bewässerungsanlagen beginnen, so könnte diese fast unfruchtbare Erde in Gärten und Weinberge verwandelt werden ... Aber sofort! Wir können nicht mehr warten. Warten bedeutet Tod, bedeutet neue Opfer. Wenn ich nicht bei Lebzeiten Liebe erwecken kann, werde ich durch mein Sterben wenigstens Reuegefühle hervorrufen.“

Aus Furcht vor einem Skandal, denn die Nachricht von dem Hungerstreik des „sizilianischen Gandhi“ ist inzwischen in ganz Italien und sogar im Ausland bekanntgeworden, beginnen sich die Politiker der Sache anzunehmen. Am siebenten Tag seines Fastens wird Dolci bewußtlos. Mit Kampferspritzen und Herztropfen bekämpft der Arzt den Kollaps und erklärt dem Kranken: „Wenn Sie nicht sofort mit der Nahrungsaufnahme beginnen, werden Sie sterben.“ Dolci aber fastet weiter.

Einige Stunden später erscheinen auf Veranlassung der Abgeordneten Alessi und Restivo in der armseligen Hütte, wo sich Dolcis Leidenslager befindet, ein hoher Geistlicher, Monsignore Arena, zwei Lokalpolitiker sowie eine Großgrundbesitzerin der Region, Baronin Lalumia, um folgendes Angebot zu machen: sofortige Hilfsmaßnahmen für alte Leute und Kinder, die Sich im äußersten Elend befinden. Bereitstellung von eineinhalb Millionen Lire für die notwendigsten öffentlichen Arbeiten. Genaues Studium eines Planes für die Errichtung eines Dammes und einer Irrigationsanlage, Straßenarbeiten zur Verbesserung der Wege und Beschäftigung der Arbeitslosen im Werte von fünf Millionen Lire.

Nach Befragung seiner Freunde nimmt Dolci den Vorschlag an. Er hat seinen ersten Sieg gegen die Gleichgültigkeit gewonnen. „Der Erfolg dieses Mannes machte einen ungeheuren Eindruck auf das Lumpenproletariat der ganzen Gegend“, erzählt der schwedische Publizist Gunnar Kumlien. „Was bisher weder der Regierung noch der KP gelungen war, hatte er fertiggebracht. Lieber Nacht war Danilo Dolci der Held der Allerärmsten."

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Als ich vor einigen Wochen beschloß, diesen ungewöhnlichen Mann, dessen Legende über die Grenzen Italiens hinausgedrungen ist, in Sizilien zu besuchen, ahnte ich nicht, daß ich dort mitten in Dolcis neueste „Aktion“ hineingeraten würde. Das handgeschriebene Zettelchen, auf dem er mich einlud, ihn im Cortile Cascino, mitten im Elendsviertel von Palermo, zu besuchen, kam bereits wieder von einem Fastenlager. Einmal mehr hatte Dolci sich in die „Wüste“ begeben, diesmal in die Slums einer Halbmillionenstadt, deren Sehenswürdigkeiten den Touristen aus aller Welt bekannt sind. Wie viele Ausländer, ja wie viele Italiener aber sind je im „Borgo", in der „Kalsa“, im „Cortile Scalilla“ oder auf der Piazza Ballaro gewesen, in den Höhlen, Kriegsruinen, halbverfallenen Häusern, die nicht weniger als 272.000 Menschen beherbergen und an Ausdehnung mehr Raum einnehmen als die „schönen Quartiere“ Palermos?

Tatsächlich wäre es auch für den Fremden,

vor allem nach Anbruch der Dunkelheit, kaum ratsam, sich in manche dieser engen Gassen zu begeben, wo die Taschendiebe, Schmuggler, Zuhälter, Hehler, Kriminelle aller Art mitten unter Arbeitslosen, Losverkäufern, Sammlern von Zigarettenstummeln, Lumpenhändlern hausen. Nur Danilo Dolci, seine Mitarbeiter, Besucher und Freunde haben hier eine Art ständigen „Passierschein“; ihnen öffnen sich nicht nur die Türen der düsteren baufälligen Wohnhöhlen, sondern auch die Herzen und Münder.

Ich fand Dolci am Fuße einer kleinen Treppe in einem kellerartigen, großen Raum, der von halbwüchsigen Kindern wimmelte. Es war der achte Tag seit Beginn seines diesjährigen Fastens, am Abend zuvor hatte er einen vorübergehenden Schwächeanfall gehabt — wie halb Palermo, ohne daß die Zeitungen darüber berichtet hätten, in wenigen Stunden wußte. Aber jetzt lag er lächelnd, umgeben von Büchern, Prospekten, Plakaten auf seinem Bett und machte einen ausgesprochen friedlichen, fast möchte ich sagen, heiteren Eindruck.

Ich hatte ein wenig befürchtet, vielleicht einem hageren Fanatiker zu begegnen, einem jener „Menschenfreunde“, denen man nicht recht glauben will, was sie predigen, weil sie dabei so verkrampft und hart wirken. Dolcis Gesicht dagegen ist rund und gütig. Von seiner slawischen Mutter scheint er nicht nur Leidensfähigkeit, sondern auch echte persönliche Wärme geerbt zu haben, die sich mit italienischer Klarheit und einer in diesen südlichen Regionen ungewöhnlichen, fast hätte ich gesagt, deutschen Gründlichkeit verbindet. Tatsächlich erfuhr ich, daß eine Großmutter Danilos aus dem Norden, von „jenseits der Alpen“, kommt.

Während der folgenden Gespräche, die ich mit Danilo Dolci führte, waren wir eigentlich nie allein. Am Morgen waren es die Kinder, eigene, adoptierte und fremde, die lachend, schreiend, weinend durch die offene Tür hereinkamen, am Abend waren es die Männer und Frauen des Quartiers, die behutsam wie in eine Kirche eintraten, dem Freunde die Hand drückten und sich dann stumm auf eine der umherstehenden Bänke setzten. Was mir von diesen Begegnungen am stärksten in Erinnerung blieb, war die Tatsache, wie ernst dieser noch junge Mann jeden einzelnen dieser armen, geplagten, um ein wenig Licht, ein wenig Nahrung kämpfenden Menschen nimmt. Ich habe miterlebt, wie Dolci am Abend von seinem Bett aus versuchte, eine Aussprache in Gang zu bringen. Das Thema hieß: „Wie können wir unsere Lage verändern?“ Und es wurde jeder, aber wirklich jeder der etwa sechzig oder siebzig Menschen im Raum um seine Meinung gefragt und geduldig von allen angehört. Gewiß, es wurde da viel gestammelt, viel Unsinn gesagt, vieles erzählt, was nicht ganz zur Sache gehörte, aber das war gar nicht so wichtig wie die Tatsache, daß ein jeder, mochte er auch seine Gedanken nur unvollkommen äußern können, ganz ernst genommen wurde, mancher vielleicht zum ersten Male in seinem Leben.

Als Dolci mir dann sagte, die Politiker, die Schriftsteller, die Philosophen sündigten; indem sie sich zuviel in den Höhenregionen der Allgemeinheiten bewegten und darüber die Wirklichkeit der Menschen vergäßen, ja sie vielleicht nie aus eigener Erfahrung kennengelernt hätten, so verstand ich nun erst richtig, was er meinte. Er schaut den Leuten wirklich „aufs Maul“, wie Luther es tat. Er schiebt sie nicht einfach wie die Statistiker in eine Rubrik ab, er will sie auch nicht als Explosivstoff für die „große Revolution" benützen. Voll und ganz nimmt er an ihrem Leben und Schicksal teil.

Die Kenntnis der einzelnen und der konkreten Einzelheiten bedeutet aber nicht, daß Dolci der Sinn für das Ganze, für die größeren Probleme fehlt. Sein diesjähriges Fasten ist ein Versuch, die Ueberlegungen des von ihm zu Beginn des Monats November in Palermo züsammengerufe- nen „Kongresses über Teil- und Vollarbeitslosigkeit“ auch bei denen zu verbreiten, über deren Schicksal dabei ja eigentlich verhandelt wurde. In diesen von Soziologen, Urbanisten, Nationalökonomen aus Frankreich und Italien beschickten Beratungen wurde unter Zuhilfenahme des ganzen Rüstwerks der modernen Sozialwissenschaften die Frage erörtert, wie man das süditalienische und sizilianische Elend durch Investitionen, durch Entwicklung neuer Indu-

strien, durch Fruchtbarmachung des brachliegenden Landes mit Hilfe der Agrarwissenschaft, durch Initiative „von unten“ und „von oben“, grundsätzlich beseitigen könnte. Erst als ich den über hundert Seiten starken Bericht über „Die Möglichkeit der landwirtschaftlichen Vollbeschäftigung in der sizilianischen Landwirtschaft“ gelesen hatte, den Dolci diesem Kongreß vorlegte, begann ich die volle Bedeutung dieses außerordentlichen Menschen zu würdigen, der mit den Kindern lachen, mit den Hungrigen fasten, aber auch mit den Fachleuten in ihrer Sprache diskutieren kann, ich hatte statt eines „seltsamen Heiligen", eines „kuriosen Rebellen“, einen neuen Menschentyp kennengelernt, der die Fähigkeiten des Fühlens und des Denkens gleich stark entwickelt hatte, einen Mann mit Herz, aber auch mit Hirn, einen „guten Menschen“ in mehr als einem Sinn.

In diesem Jahr ist endlich durch den Zusammenschluß von sechs Mächten ein Anfang auf dem Wege zu einem einigen Europa gemacht worden, ein Europa, das allerdings, wie man in Sizilien etwas bitter sagt, vorläufig noch „in Neapel aufhört". Wenn wir von diesem Europa sprechen, sollten wir nicht nur an eindrucksvolle Statistiken denken, die das wirtschaftliche Potential der sechs beteiligten Nationen zusammenaddieren. Es gibt außerdem in Europa auch noch ein Potential schöpferischer Menschen, eine Reihe von Persönlichkeiten wie Danilo Dolci, die — mögen sie auch manchen Behörden unbequem sein — als Christen und als freie Menschen dem echten Europäertum zum Durchbruch verhelfen wollen. Ein einziger solcher Europäer, wie Danilo Dolci, aber erscheint mir wichtiger als tausend neue Autos und drei neue Stahlwerke. Solange solche Menschen unter uns leben, denen das Evangelium mehr als toter Buchstabe ist, dürfen wir hoffen.

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