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Der erneuerte „Jedermann“

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Sosehr dem Salzburger „Jedermann“ die statische, ja Statuarische Eigenschaft innewohnt, sooft er gespielt wird, um für die kurze Zeitspanne von eineinhalb Stunden ein lebendiges Denkmal für seinen Dichter, Hugo v. Hofmannsthal, und für seinen ersten Inszenator, Max Reinhardt, zu sein, sosehr entfaltet er auch eine zutiefst theatralische Möglichkeit: die der steten Erneuerung. Es wäre nicht klug gewesen, hätte man die in den ersten Nachkriegsjahren geübte Praxis fortgesetzt, den „Jedermann“ nach dem Regieblich Max Reinhardts und in der Besetzung der dreißiger Jahre aufzuführen, denn das Theater ist etwas Lebendiges, Inszenierungs- und Darstellungsstil sind ebenso dem Wandel der Zeit unterworfen wie die Schauspieler, die Kostüme, die Dekorationen ihrem Fortschreiten. Die Entscheidung der Salzburger Festspieldirektion, die Aufführung dieses Werkes einem neuen Regisseur, Ernst Lothar, anzuvertrauen, und dies mit der Vollmacht einer durchgreifenden künstlerischen Erneuerung, war also zwingend, nach dem diesjährigen, dem fünften „Jedermann“ unter Lothars Regie, kann man feststellen, daß diese Entscheidung auch eine glückliche war. — Die Aufführung ist noch um eine Spur lebendiger, um eine weitere Nuance moderner geworden. Will Q u a d f 1 i e g spielt den Jedermann nun schon zum füfiftcnmal und man wird mit Staunen gewahr, wie dieser große Künstler immer tiefer in Hofmannsthals Barockfigur hineinwächst und aus dieser fortschreitenden Verinnerlichung seines Spiels in immer zunehmendem Maße die Gottvergessenheit, die Gottlosigkeit des reichen Mannes von heute auszudrücken vermag. Nach Quadflieg ist Adrienne G e ß n e r hervorzuheben, die Jedermanns Mutter gibt: darf man vermessen sein und diese Schauspielerin begnadet nennen? Ihre Aussprache mit Jedermann auf offener Straße, ihre innere Zwiesprache auf dem Gang zur Frühmette sind von solcher Frömmigkeit, Schlichtheit und SeelengröSe, daß uns das Wagnis dieses Wortes erlaubt zu sein scheint. Der Stimme des Herrn, gesprochen von Karl Blüh m, und dem Glauben, dargestellt von Antje Weißgerber, waren von der Regie mehr kontrapunktische als metodieführende Aufgaben zugewiesen worden, so daß hier die gedankliche Größe des Hofmannsthal-schen Textes um so stärker in den Vordergrund tritt: die Ermahnung der Menschheit, ihres Schöpfe nicht zu vergessen, und die Botschaft, daß Gott in seiner Barmherzigkeit dem Glaubenden verzeihe, der der Reue fähig und zur Buße bereit ist. Hilde Mikulicz, zum zweitenmal die Guten Werke spielend, kommt dem Idealbild ihrer Vorgängerin Alma Seidler um einen weiteren Schritt näher — in einigen Jahren wird sie dieses erreichen. Die farbigste Figur des Mysterienspiels gibt Kurt M e i s e 1, dessen umheimlich packender, in seiner Wildheit faszinierender Teufel nur einen einzigen Wunsch offen läßt: daß er über der Dynamik seines Spiels die Dämonie seiner Rolle nicht vergesse.

Mit vier Neubesetzungen dokumentiert sich die stete Erneuerung des „Jedermann“ auch rein äußerlich: drei Schauspieler ersten Ranges konnten zum erstenmal, und ein großer Künstler, der nach mehrjähriger Abwesenheit wieder nach Salzburg zurückfand, konnte endgültig für das Festspielensemble gewonnen werden. Ernst Deutsch ist wiederum der Tod: mit eisiger Kälte, mit unerbittlicher Schärfe und mit einer Meisterschaft der Diktion, die durch die Betonung oft nur einer Silbe Wortwirkungen von ungeahnter Prägnanz hervorzurufen vermag. Eine Idealbesetzung! Martha W a 11 n e r, die ans Burgtheater engagierte Schauspielerin des Wiener Volkstheaters, ist die neue Buhlschaft — vielleicht nicht ganz das blühende Hofmannsthalsche Weib, durchpulst von barockem Lebensgefühl, aber von einer Leidenschaftlichkeit, die dieser Rolle eine neue und durchaus moderne Seite abgewinnt. Walther R e y e r debütiert als Guter Gesell und ist als ganz großer Gewinn für die Aufführung anzusehen —, jedenfalls der beste Interpret dieser Rolle seit Jahren. Hanns Ernst Jäger schließlich gibt dem Mammon, dieser rein mittelalterlichen Figur, ganz moderne, beinahe intellektuelle Züge: ein Experiment der Regie, über das sich vielleicht streiten läßt, das unserer Meinung nach jedoch geglückt ist.

„Jedermann“ wurde auch diesmal zum großen, ergreifenden Spiel vom Sterben des reichen Mannes, von dem Hugo v. Hofmannsthal und Max Reinhardt sehr genau wußten, warum sie es in den Mittelpunkt der Salzburger Festspiele stellten: wo Kunst und Natur einander in Vollendung begegnen, will Gott, daß auch Er gehört werde.

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