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Der ZeitJiaker

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Die Zeit ist ein seltsames Ding. Man kann sie haben oder nicht haben, man Jcann sie sparen oder verschwenden, hochschätzen oder totschlagen, nur eines kann man nicht: sagen, was sie ist. Sie ist einer von jenen Begriffen, die wir täglich gebrauchen, ohne sie letzten Endes zu verstehen. Gerade diese Begriffe üben aber die schärfste Tyrannei über die Menschen aus, und sich dieser zu entziehen ist ein Kennzeichen des Weisen.

Der Altpensionist Leopold Simmler zählte zwar nicht zu den Weisen, aber er hatte ein besonderes Verhältnis zum Zeitbegriff. Man darf ihn als einen der reizendsten Menschen unserer Zeit bezeichnen. Denn schon von seiner frühesten Jugend an reizte er seine Mitmenschen zur Wut. Und zwar durch seine unermeßliche Ruhe in allen Lebenslagen. Sein Wahlspruch war: „Ich hab Zeit.“

Schon in der Schule ärgerte er seine Mitschüler, die nur halb gewaschen und das Frühstück kauend zur Schule rannten, durch seinen ruhigen, gleichmäßigen Schritt, der besagte: „Ich hab Zeit.“ Und das Ärgerliche daran war, daß er wirklich noch zurecht kam, keine Sekunde zu früh, aber auch keine zu spät. Schularbeiten schrieb er langsam und bedächtig nieder, während die anderen keuchten und schwitzten. Wenn nach einer Keilerei oder irgendeinem Streich der Professor am Horizont erschien und alles davonrannte, blieb Simmler bei seinem langsamen Schritt und sagte: „Ich hab Zeit.“ Diese Ruhe wurde meist als ein Zeichen guten Gewissens angesehen und Simmler entging der Strafe, auch wenn er begründeten Anspruch auf eine solche gehabt hätte.

Irgendwie wurde er mit der Schule fertig und wurde dann Beamter. Es war noch die gute alte Zeit, da ein Vorstand ruhig fünf bis sechs Stunden scharfen Nachenkens der Frage widmen konnte, ob hier „deshalb“ oder „deswegen“ zu schreiben sei. Ein Akt bewegte sich langsam, unabhängig von der Zelt, durch ungezählte Abteilungen. Mancher brauchte mehrere Menschenalter und wurde eigentlich niemals fertig wie eine gotische Kathedrale.

Es wäre nun anzunehmen gewesen, daß sich Simmler diesem Milieu vortrefflich eingefügt hätte. Aber merkwürdigerweise war gerade das Gegenteil der Fall. Der Fehler war seine Redensart: „Ich hab Zeit.“ Denn wenn man hier auch Zeit in Hülle und Fülle hatte, durfte man es beileibe nicht sagen. Es war vielmehr stillschweigend vorgeschrieben, stets überbürdet zu scheinen und keine Zeit zu haben. Viele verstanden dies so Ärtreff-lich, daß sie schließlich selbst daran glaubten, manche sogar ernstlich erkrankten und starben.

Die Kollegen betrachteten ihn voll Ingrimm und gaben ihm den Beinamen „Der

Zeithaber“. Sein Vorstand aber haßte ihn geradezu. Denn Simmler brachte ihn um das größte Vergnügen seines Dienstes. Der Vorstand hatte die Eigenheit, seinen jeweils jüngsten Beamten gerne ein bißchen zu quälen. Das war ihm so zum Bedürfnis geworden, daß er ohne das nicht leben konnte. Er bediente sich zu diesem Zwecke einer ganz besonders raffinierten Tortur, die harmlos aussieht, aber in der Tat zu den ärgsten Qualen zählt, wie auch ein chinesischer Meister sie nicht besser erfinden könnte. Es ist dies die Qual des Gespräches.

Die Beamten pflegten sich damals ungemein auf den ScHuß der Bürpstunden zu freuen, besonders die Jüngeren, weil sie nun hinaus ins Leben enteilen durften. Genau eine Minute vor Schluß läutete der Vorstand dem Praktikanten, setzte sich bequem zurecht, zündete sich seine Pfeife an und breitete einen Akt gemächlich auf dem Schreibtisch aus. Zunächst stellte er fest, daß keinesfalls „deshalb“ stehenbleiben könne, und analysierte nun alle anderen Möglichkeiten. Der Vorgänger Simmlers war für diesen Zweck ein ausgezeichnetes Objekt gewesen. Ihm war die Zeit kostbar und nach fünf Minuten begann er schon an der Unterlippe zu nagen. Der Vorstand bemerkte das genau und nun spielte er auf dem Praktikanten wie auf einer Ziehharmonika. Er klappte den Akt zu. Da strahlte deutlich sichtbar die freudige Hoffnung im Auge des Opfers auf. Der Vorstand lächelte und begann ein Gespräch über Krankenversicherung. Sofort verdüsterte sich das Antlitz des Praktikanten und nahm einen leidenden Ausdruck an. Dann sagte der Vorstand: „Na also, Schluß damit.“ Freudige Hoffnung. Nun aber griff er nach einem anderen Akt. Verzweiflung. Dieses Spiel wiederholte sich mit wechselnden Gesprächsthemen etwa zwanzigmal. Wenn der Praktikant blaß wurde und leise zu schwanken begann, einer Ohnmacht nahe (denn furchtbar ist die Macht des Gespräches), dann entließ er ihn H Gnaden und rauchte zurückgelehnt in tiefer Befriedigung seine Pfeife zu Ende, während in den Winkeln des leeren Büros die Mäuse geisterhaft raschelten.

Bei Simmler aber war es anders. Als ihn der Vorstand das erstemal herbeiläutete, fragte er ihn der Form halber: „Haben Sie Zeit?“ — „Ich habe Zeit“, erwiderte Simmler mit der ihm eigenen Ruhe. Der Vorstand begann zu reden. Langsam zog er die Schrauben an und beobachtete sein Opfer. Aber zu seinem Befremden konnte er nicht die geringste Wirkung feststellen. Die ausführlichen Erwägungen, ob es „deshalb“ oder „daher“ zu heißen habe, glitten an Simmler ab wie das Wasser vom Leib eines Seehundes. D.as Thema Krankenversicherung, mit dem der Vorstand schwächere Praktikanten oft schon nach einer halben Stunde an den Rand der Verzweiflung gebracht hatte, versagte bei Simmler vollständig. Dieser gab nur ungefähr alle fünf Minuten eine Art Kontrollsignal von sich: „Mhm“ oder „Hmh“, so daß der Vorstand selbst nervös wurde. Er fühlte, daß er selbst den festen Grund zu verlieren begann und griff zu seinem stärksten Folterwerkzeug, zur Philosophie. Wie der menschliche Geist die Welt beherrsche, wie die Welt entstanden sei, wie die Krankenversicherung entstanden sei, wie überhaupt alles übrige entstanden sei. Aber Simmler war nicht knockout zu reden. Er stand da wie ein Mann von Eisen. Schließlich wurde der Vorstand heiser und ging ohne Gruß davon.

Von nun an war er der Todfeind Simmlers. Er setzte es durch, daß Simmler bei der Beförderung übergangen wurde. Er selbst teilte es ihm mit und erwartete den Zusammenbruch des FHndes. Aber Simmler sagte bloß: „Ich hab Zeit.“ Nach etlichen Jahren ging der Vorstand in Pension, und nach längerer Zeit wurde Simmler selbst Vorstand und diente ein paar Jahrzehnte, bis auch er reif zur Pension war. Nun brachte er seine Hintermänner zur Verzweiflung, weil er nicht daran dachte, in Pension zu gehen, sondern immer sagte: „Ich hab Zeit.“

Aber schließlich wurde er doch Pensionist und lebte rüstig weiter, obwohl er Altpensionist war. Seine Pension schrumpfte mit der Zeit so ein, daß ihm nicht einmal mehr Abzüge gemacht wurden, weil dies nur noch im Wege der Atomzertrümmerung möglich gewesen' wäre. Er war nun schon ein rüstiger

Neunziger, und sieben rüstige Sechzigerinnen stritten um die Ehre, einmal Witwe Simmler zu heißen. Aber sein bewährter Wahlspruch ließ ihn auch diesen Ansturm lächelnd überstehen.

Eines Abends klopfte ein älterer Herr mit schwarzer Kappe an, und als Simmler öffnete, sagte der Herr: „Na also, kommen S' mit.“ — „Wieso?“, fragte Simmler, „hat mich wer angezeigt?“ — „Das nicht“, sagte der Fremde, „aber ich bin der Gangerl, und es war wohl schon Zeit, daß ich Sie holen komm!“ — „Ich hab noch Zeit“, erwiderte Simmler, „übrigens legitimieren Sie sich.“

Der Besucher öffnete mit seinen knochigen Fingern umständlich Rock und Weste und enthüllte die kahlen Rippen seines Skeletts. Simmler schüttelte den Kopf. „So schaun wir heutzutag alle aus. Wahrscheinlich sind Sie auch ein Altpensionist.“ Da hob der andere höflich die Kappe samt der Hirnschale ab, unter der es gähnend leer war. „Das ist zwar auch noch kein Beweis“, meinte Herr Simmler, „aber ich will es Ihnen glauben, daß Sie der Gangerl sind.“ — „Also gehn wir?“ — „Nein, ich hab Zeit.“ — „Aber warum wollen Sie nicht mitgehn? Haben Sie noch immer nicht genug von diesem Leben?“ — „Genug hab ich schon lang. Aber ich will noch so zwanzig bis dreißig Jahre leben wegen der Pension. Wenn sie mir schon so wenig zahlen, so sollen sie wenigstens lang zahlen. Und wenn ich hundertfünfzig Jahre alt werden muß.“

Das leuchtete dem Gangerl ein und er empfahl sich. Die Hausmeisterin hielt es nicht aus und fragte ihn im Vorübergehen, ob es der arme Herr Simmler nun überstände habe. „Nein, der hat Zeit“, erwiderte der Gangerl und verschwand. Herr Simmler aber lebt heute noch.

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