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Die Käßliclie Anna

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Mit der Herzlosigkeit der Jugend und der Grausamkeit derer, die durch Mangel an harter Lebenserfahrung und eigenem Leid noch keine tiefere Schau gewonnen haben, verfolgten wir sie mit Spott und Bosheit. Freilich war uns niemals recht wohl bei diesem schändlichen Treiben, denn die häßliche Anna — im ganzen Dorf wurde sie nicht anders genannt — begegnete ihm keineswegs so, wie wir es uns gewünscht halten. Sie verstand es vorzüglich, unsere Spottlieder und Schandverse, in denen wir ihre körperlichen Mängel besangen und verhöhnten, zu überhören, und sie tat dies mit einer erhabenen Ausdauer, daß uns oftmals heimliche Zweifel befielen, ob sie nicht auch taub sei, und stumm dazu, denn sie gab uns nie ein böses Wort, obwohl wir es oft verdient hätten.

Ihre mißförmige Gestalt mit den häßlichen Gesichtszügen gehört ebenso unauslöschlich zum geschlossenen Bild meiner dörflichen Heimat, wie etwa der alte Nußbaum neben dem Friedhofseingang, auf dem wir uns einmal einen sogenannten „Hochsitz“ aufgeschlagen hatten, um die Kirchenbesucher besser mit Kirschkernen bewerfen zu können, oder die braune Stute Nina, ein ungewöhnlich kluges, sanftes Tier, mit dem Kaspar Braun, der Milchhändler, seine glänzenden Kannen zur Bahn fuhr.

Da die Anna, die allein mit ihren Ziegen, Hühnern und Katzen — solange wir uns erinnern konnten — in einer ärmlichen Hütte am Dorfrand hauste, für uns ein völlig altersloses Wesen darstellte, weder durch anmutige Jugend noch durch mütterliche Fraulichkeit ausgezeichnet, überraschte uns junges Volk eine Nachricht sehr, die von einem größeren Mädchen mit mancherlei Begleitreden in unsern Kreis getragen wurde: die häßliche Anna hätte ein Kind bekommen.

Weil uns aber damals seelische Probleme noch ferne lagen, kreisten unsere Gedanken nicht gleich denen der Erwachsenen um die Frage der geheimnisvollen Vaterschaft des Kindes, sondern um ganz andere Dinge. Wir rätselten nicht jener dunklen Tat nach, die vermutlich ein Akt gemeiner, mißbräuchlicher Gewalt gewesen, weil man die Möglichkeit einer verborgenen Leidenschaft bei jenem verunstalteten Frauenzimmer kurzweg ausschaltete, wir wollten wissen, ob das kleine Wesen der Anna nachgeraten sei, ob es ihr an Häßlichkeit gleichkam, um ein neues Objekt unserer boshaften Verfolgung zu werden, und ob es sich nicht fürchte, mit ihr, die seine Mutter sein sollte, unter einem Dache zu hausen, in einem Bett zu schlafen, aus einem Teller zu essen.

Allein, wir brauchten unsere Neugierde nicht lange zu bezähmen. Das Kind starb, bevor wir es je zu Gesicht bekommen hatten, nhwohl wir das Haus am Dorfrand tagelang heimlich belagerten.

Wohl streifte auch an unsere jungen, noch oberflächlichen Herzen leise die Frage nach dem Sinn dieses kurzen Lebens, das, aus einem rätselvollen Dunkel kommend, in eine freudlose, gefahrenreiche Gegenwart getreten war, um sich gleich wieder auf die Reise in ein besseres Jenseits zu begeben... Doch all das berührte uns schließlich doch zu wenig, um uns wahrhaftig aufzuregen oder uns aus unserem verspielten, dörflichen Alltag zu schrecken.

Nur an etwas kann ich mich noch genau erinnern, so klar und eindringlich, als hätte es sich erst gestern zugetragen: es war ein herbschöner Herbsttag mit jener gläsernen, wehmütigen Bläue über den abgeernteten Feldern, die eine leise, unnennbare Traurigkeit atmet, als das tote Kind der häßlichen Anna begraben wurde. Das ganze Dorf beteiligte sich mit unverschämter Selbstverständlichkeit an der Beerdigung des jungen Lebewesens, das kaum jemand gesehen hatte, für das niemand Zuneigung verspürte, für dessen Mutter man kein Fünklein Mitgefühl empfand, weil man der Häßlichen kurzerhand das Herz absprach.

Auch wir Kinder schlössen uns voll Neugierde an den Trauerzug an, der grotesk groß war. Ein ganzes Dorf war auf den Beinen, um einem toten Kind das letzte Geleit zu geben, dessen Vater man nicht kannte und dessen Mutter man nicht ernst nahm.

Hinter dem kleinen Sarg schritt die häßliche Anna, ganz allein und mit gesenktem Haupte, als schäme sie sich, die Trauer in ihren entstellten Zügen öffentlich zur Schau zu tragen. Vielleicht war auch gar kein Weh in ihr? Wer wollte es wissen, da niemand ihr Herz kannte?

Später aber, als die Männer die kleine Truhe in die Grube senkten, begleitet von den eintönigen Sprüchen des Vorbeters, hob sie ihr Gesicht plötzlich zum Himmel und weinte in unsäglichem Leide. In diesem Augenblick war alle Häßlichkeit von ihr abgefallen wie durch ein Wunder, und sie ward plötzlich schön im Schmerze der klagenden Mutter.

Von jenem Tage an vermochten wir nicht mehr, ihrer zu spotten.

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