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Die ungenützte Chance

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Müller zu heißen, hat den Vorteil der Allgemeinheit, dachte er. Es war ein zauberhafter Morgen, zart, kühl und unberührt duftig. Zehn Minuten vor acht ist eine Zeit, in der die Straßen voll Müllers sind oder zumindest solcher, die es ohne weiteres sein können. Müller, dachte er, indem er die

frische, nach feuchter Erde riechende Luft einatmete, mit der rechten Hand den Hut lüpfte, um sich die Kühle um die Schläfen streichen zu lassen, Müller ist ein Name ohne Geschichte. Sicherlich haben schon Hunderttausende vor mir so geheißen: Dichter, Philosophen, Knechte, Markthelfer, Staatsmänner, Lustmörder — und kleine Büroangestellte wie ich. Wie peinlich wäre es doch heute,

Hitler zu heißen, und wie auffallend und verpflichtend, sich Goethe nennen zu müssen. Aber Müller, das ist vortrefflich, da ist man alles und nichts! Die Müllers sind die wahrhaft Unbelasteten der menschlichen Gesellschaft.

Er war vergnügt, als er die Tram bestieg,

bemerkte nicht, daß er zehn Minuten gewartet hatte, kaum mehr einen Platz am Trittbrett fand, daß er sich an einen Mann pressen mußte, der entsetzlich nach Knoblauch roch, daß heute erst der Zwanzigste war und er keinen Groschen mehr in der Börse hatte, daß die Zeitungen in Schlagzeilen einen neuen Krieg vorbereiteten. Er verpaß, daß er noch vom letzten eine klappernde Prothese trug,

daß ihm Lilly aus dem Vorzimmer des Chefs wahrscheinlich deshalb einen Korb gegeben hatte, daß er in einem Kabinett wohnte, in das es regnete, und daß ihn in verschiedenen Zeitabständen eine tiefe Traurigkeit anfiel. Das alles vergaß er. •

Er stieg aus und atmete tief. Das war bei ihm ein Zeichen von Zufriedenheit. Die Luft roch noch immer nach feuchter Erde. Müller pfiff, er pfiff das Lied der Müllers, das Lied der guten Menschen oder zumindest derer, die es noch werden können, das Lied derer, die mit dem Wochenlohn nicht auskommen, denen es hereinregnet, die Prothesen tragen und deshalb bei Mädchen kein Glück haben, mit denen herumgeschrien wird.

Müller bog um die Ecke, und da zeigte sich, daß ein Glück selten allein kommt, genau so wie ein Unglück. Ein Zweischillingstück lag blank und leuchtend auf dem Geh-, steig. Müller geriet in eine merkwürdige Erregung. Plötzlich wurden seltsame Kräfte in ihm frei; sie paßten nicht zu seinen abgetretenen Schuhen, auch nicht zu der wundersamen Luft dieses Morgens. Sie waren dunkel und stiegen aus einer geheimnisvollen, unergründlichen Tiefe.

Sollte sich das Blatt wenden? Er blieb vor einer nahen Lotterie stehen und drehte die Münze zwischen den Fingern. Er las die Gewinne, und es begann ihm warm zu werden. Jetzt krampfte sich die Faust um die Münze, vielleicht hatte er es in der Hand...

Ein Strom wirrer, phantastischer Gedanken riß ihn unwiderstehlich mit sich fort. Man müßte das Geld arbeiten lassen, es vermehren; es müßte mich groß machen, unendlich groß, mächtig, einflußreich. Lilly wird einwilligen, selbstverständlich, aber sie allein wird nicht mehr genügen. Ein Packard, Zentralheizung in der Villa, Weltreisen. Müller

„Stimmen der Gegenwart 1953“

Zeichnung von Julius Seidler

stieß mit dem Fuß auf den Asphalt und atmete hastig und tief. Man wird Untergebene haben, Diener, Personal, Angestellte, Arbeiter, dann müssen die sich ducken! Befehlen! Der kleine Müller bekam einen roteh Kopf, eine Frau sah sich verwundert um, jemand lachte.

Die Luft war noch immer kühl und voll Duft. Aber jetzt bemerkte er es nicht mehr. Er hatte das Zweischillingstück in der einen und die Möglichkeit in der anderen Hand. Er stand vor der Lotterie des Lebens. Einmal hat jeder seine große Chance. Er wird seinen Namen mit feurigen Lettern in die Geschichte schreiben.

Seinen Namen? Er drehte sich um, gegenüber zog ein Schuster den Rollbalken in die Höhe. Auf dem Schild stand: Franz Müller, Schuhmachermeister. Die Straße war übervölkert von Müllers oder solchen, die es ohne weiters sein konnten. Er wurde unruhig. Ein Gefühl der Verantwortung stieg in ihm hoch.

Ein kleines Metallstück zwischen den bloßen Fingern kann teuflisch brennen. Rasch wandte er sich um, ging zur nächsten Straßenecke und warf die blanke Münze, die Münze seiner Möglichkeit, in die Kappe eines Bettlers. Glück muß man haben, dachte sich dieser und ließ das Geldstück schmunzelnd in die Tasche seines geflickten Rockes gleiten, Glück wie am heutigen Morgen, der so merkwürdig nach feuchter Erde riecht.

Der junge Mann aber klapperte weiter mit seiner Prothese, eins, zwei, eins, zwei, und war außerordentlich zufrieden darüber, Müller zu heißen, ein Name ohne Geschichte, ein Name, mit dem man noch ein guter Mensch werden konnte. Ich werde heute einen Bottich unter die regendurchlässige Stelle des Plafonds stellen, dachte er und betrat das Büro.

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