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DIE WÄLDER VON BRJANSK

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Konstantin Paustowskij, geboren 1883, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller des neuen Rußland. Unbeeinflußt vom sozialistischen Realismus, zur Romantik hinneigend und daher in seiner Heimat oft heftig kriiisiert, schreibt er eine Prosa, die dem klassischen Stil der großen russischen Prosaisten nicht nachsteht. Seine wahre Meisterschaft erreichte Paustowskij in der autobiographischen Epopöe, in der er das Lied seines Lebens singt. Die Nymphenburger Verlagshandlung, München, bringt in fünf Bänden das Gesamtwerk des russischen Erzählers heraus: „Ferne Jahre“; „Unruhige Nacht“; „Beginn des unbekannten Jahrhunderts“; „Die Zeit der großen Erwartungen“; „Der Wurf nach Süden“. Der folgende Beitrag ist dem 1. Band „Ferne Jahre“ entnommen.

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Konstantin Paustowskij, geboren 1883, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller des neuen Rußland. Unbeeinflußt vom sozialistischen Realismus, zur Romantik hinneigend und daher in seiner Heimat oft heftig kriiisiert, schreibt er eine Prosa, die dem klassischen Stil der großen russischen Prosaisten nicht nachsteht. Seine wahre Meisterschaft erreichte Paustowskij in der autobiographischen Epopöe, in der er das Lied seines Lebens singt. Die Nymphenburger Verlagshandlung, München, bringt in fünf Bänden das Gesamtwerk des russischen Erzählers heraus: „Ferne Jahre“; „Unruhige Nacht“; „Beginn des unbekannten Jahrhunderts“; „Die Zeit der großen Erwartungen“; „Der Wurf nach Süden“. Der folgende Beitrag ist dem 1. Band „Ferne Jahre“ entnommen.

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Für den Sommer hatte Onkel Kolja ein Sommerhaus nahe von Brjansk auf dem alten verwilderten Gut Rjowny in den Brjansker Wäldern gemietet, und er hatte uns alle dorthin eingeladen. Die Eltern hatten zugesagt. Sie konnten aber nicht reisen, bevor nicht in den Schulen, die meine Schwester und die Brüder besuchten, die Prüfungen abgeschlossen waren. Ich wurde allein vorausgeschickt. „Er muß sich dran gewöhnen“, sagte Vater, „das ist für so schüchterne Knaben ganz nützlich“.

Vater schrieb Onkel Kolja einen Brief. Was er darin schrieb, das wußte ich nicht. Mama packte für mich einen kleinen Koffer, wobei sie heimliche Tränen vergoß. Es war nichts vergessen worden, und obenauf lag ein Zettel mit Verhaltungsregeln. Man kaufte mir ein Billett zweiter Klasse bis zur Station Sineserki. Das Sommerhaus des Onkels war zehn Werst von dieser Station entfernt. Alle begleiteten mich zur Bahn, sogar Borja kam mit. Vater sprach mit dem graubärtigen Schaffner und gab ihm ein Trinkgeld.

„Ich werde ihn schon wohlbehalten hinbringen“, sagte der Schaffner zu Mama. „Regen Sie sich nur nicht unnötig: auf, gnädige Frau.“ Mama bat die Mitreisenden im Abteil, auf mich achtzugeben und mich nicht auf den Stationen aussteigen zu lassen. Die Mitreisenden waren gern dazu bereit. Mir war das sehr peinlich, und ich zupfte Mama heimlich am Ärmel.

Als das zweite Glockenzeichen erklang, fingen alle an, mich abzuküssen, auch Borja küßte mich, während er mir jedoch gleichzeitig, von den andern unbemerkt, eine sogenannte „Birne“ versetzte, das heißt mir schmerzhaft mit dem Daumennagel auf dem Scheitel bohrte. Alle gingen aus dem Abteil hinaus auf den Bahnsteig. Nur Mama konnte sich nicht zum Gehen entschließen. Sie hielt mich an beiden Händen und sprach auf mich ein: „Sei artig, hörst du? Sei ein vernünftiger Junge. Und nimm dich in acht, sei nicht unvorsichtig.“ Sie sah mich forschend an. Das dritte Glockenzeichen erklang. Sie umarmte mich noch einmal und ging rasch, mit rauschenden Röcken, zum Ausgang. Sie sprang ab, als der Zug schon anfuhr. Vater fing sie auf und schüttelte mißbilligend den Kopf.

Ich stand an dem geschlossenen Fenster und sah, wie Mama allen voran rasch über den Bahnsteig schritt, und in diesem Augenblick bemerkte ich zum erstenmal, wie schön, wie klein und wie zart sie aussah. Meine Tränen fielen auf den staubigen Fensterrahmen.

So begann meine Reise. Sie ermüdete mich sehr, weil ich, außer in den Nächten immerzu am offenen Fenster stand. Aber ich fühlte mich glücklich. Zum ersten Male erlebte ich die Sorglosigkeit des Reisens, die man empfindet, wenn man an nichts zu denken braucht und lediglich durch das Fenster auf Roggenfelder, Haine und kleine Stationen blickt, wo barfüßige Bäuerinnen Milch verkaufen, auf Flüßchen, Weichensteller, Stationsvorsteher mit staubigen roten Mützen, auf Gänse und auf Dorf-kindev, die hinter dem Zug herlaufen und rufen: „Onkelchen, schenk uns eine Kopeke I“

Die Eisenbahnstrecke nach Brjansk war damals lang und machte viele Umwege — man fuhr über Ljgow und Nawlja. Erst am dritten Tage kam der Zug in Sineserki an. Er fuhr langsam, ohne sich zu beeilen, er stand lange auf den Stationen, er pumpte sich an den Wassertürmen voll. Anfangs stiegen die Reisenden immer aus, sie liefen ans Büfett und holten sich kochendes Teewasser, sie handelten auch von den Dorfweibern Erdbeeren und gebratene Hühnchen ein. Später kamen sie alle zur Ruhe. Längst wäre es an der Zeit gewesen abzufahren; über der Station lag eine schläfrige Stille, die Sonne brannte herab, die Wolken zogen dahin und warfen blaue Schatten auf das Land, die Reisenden schlummerten ein, doch der Zug stand und stand. Nur die Lokomotive schnaufte schwer, und öliges, heißes Wasser tropfte aus ihr auf den Sand.

Endlich trat der dicke Oberschaffner aus dem Stationsgebäude. Er trug einen Rock aus Segeltuch; er strich sich den Schnurrbart, hob ein Pfeifchen an den Mund und piff durchdringend. Die Lokomotive gab keine Antwort, sie schnaufte nur wie vorher. Da ging er träge einige Schritte in Richtung Lokomotive und pfiff wieder. Die Lokomotive antwortete immer noch nicht. Erst nach dem dritten oder vierten Pfeifen gab sie einen kurzen unzufriedenen Laut-von sich und setzte sich langsam in Bewegung. '«,.;

In Sineserki kam der Zug in der Abenddämmerung an. Der Schaffner trug meinen Koffer auf den Bahnsteig hinaus. Ich erwartete, daß Onkel Kolja oder seine Frau, Tante Marusja, mich abholen würden, aber es war niemand auf dem Bahnsteig. Meine Reisebegleiterinnen waren darüber sehr beunruhigt. Der Zug hatte in Sineserki eine Minute Aufenthalt. Er fuhr ab, und ich stand allein neben meinem Koffer. Ich war überzeugt, daß Onkel Kolja sich verspätet hatte und gleich kommen würde. Über den Bahnsteig kam leicht hinkend ein bärtiger Bauer auf mich zu. Er trug eine Joppe und eine schwarze Schirmmütze; in einem seiner Stiefelschäfte steckte eine kurze Peitsche. Er roch nach Pferdeschweiß und nach Heu. „Bist du etwa der Kostik?“ fragte er mich. „Und ich warte draußen auf dich. Der Onkel Hauptmann hat befohlen, dich abzuholen und sicher nach Hause zu bringen. Gib dein Köfferchen, laß uns gehen!“

Das war die letzte Prüfung, die Vater mir auferlegt hatte. Er hatte an Onkel Kolja geschrieben, daß mich niemand in Sineserki abholen solle. Der Kutscher — er hieß Nikita — murmelte noch irgend etwas über meinen Onkel, den Hauptmann, in seinen Bart, setzte mich in den Wagen auf weiches Heu, über dem eine Zeltplane lag, band den Futtersack ab, kletterte auf den Bock, und dann fuhren wir los.

Zuerst fuhren wir lange durch abendliche Felder, dann führte der Weg hügelan durch Wälder, die düster und still zu beiden Seiten des Weges standen. Manchmal rumpelte das Wäglein über eine Brücke aus Holzbohlen, und unter ihr blinkte schwarzes Sumpfwasser. Feuchtigkeit wehte herauf, es roch nach Riedgras. Hinter den Wäldern, über dem niedrigen Gebüsch, erhob sich der glutrote stille Mond, die Rohrdrommel rief, und Nikita sagte: „Hier herum ist nichts als Wald. Hier wohnen wenig Leute. Wald gibt es hier und viel Wasser... Und nirgends duftet es besser im ganzen Gouvernement Orjol als hier bei uns.“

Wir fuhren jetzt durch einen Tannenwald, dann einen ziemlich steilen Abh?ng zu einem Flüßchen hinunter. Die Tannen verdeckten den Mond, es wurde ganz dunkel. Vor uns auf dem Weg hörte ich Stimmen, mir wurde bange zumute. „Bist du es, Nikita?“ rief aus der Dunkelheit die bekannte Stimme des Onkels. „Brrl“ rief Nikita wütend dem Pferde zu. „Jawohl, wir sind es! Brr, steh, der Waldgeist soll dich holen!“ Irgend jemand ergriff mich, hob mich aus dem Wagen, und ich sah undeutlich im Dunkeln Onkel Koljas lachende,Augen und. seine weißen Zähne. Er küßte mich und übergab mich Tante Marusja. Sie tätschelte mich und lachte dabei mit ihrer Altstimme. Sie duftete nach Vanille — gewiß hatte sie noch vor kurzem mit süßem Kuchenteig zu tun gehabt. Nun saßen wir auf dem Wagen, und Nikita ging nebenher.

Wir fuhren über eine alte schwarze Brücke, die über einen tiefen, klaren Fluß führte, dessen Ufer von dichtem Gebüsch bewachsen warn, dann kam noch eine Brücke. Unter ihr hörte ich einen Fisch laut auf das Wasser schlagen. Endlich fuhr der Wagen durch ein Parktor, wobei er einen der Steinpfosten

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