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Digital In Arbeit

Edler Staut aus edlen Persern

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Wer einmal einen dieser nackthälsigen Gänsegeier gesehen hat, droben im Gebirge oder im Zoo oder ausgestopft in der Prunkhalle eines der kleinen wurmstichigen Landschlößchen zwischen dem Ebro und den Pyrenäen, der wird die Gefühle der beiden Strolche Gongora und Lope verstehen können. Sie hatten an das mürbe Tor des Schlößchens gepocht, einmal, zweimal, dreimal, daß es widerhallte und in einem versteckten Winkel so eine Bestie von einem kleinen Köter mit seiner spitzen, heiseren Stimme zu kläffen anfing. Und dann hatte sich ein Fensterflügel im ersten Stockwerk kreischend geöffnet, und Don Pedro y Argote hatte seinen dürren Kopf herausgeschoben. Und nun hatten Gongora und Lope die Vision eines Gänsegeiers und sie zogen erschrocken ihre Hälse ein.

„Was wollt ihr?“ fragte Don Pedro unwirsch.

Es muß nun hinzugefügt werden, daß Gongora und Lope leere Ranzel und leere Mägen hatten, und wenn sie Geldbörsen besessen hätten, so wären auch diese leer gewesen, leer und ausgefegt wie der Dorfplatz am Sonntag, nachdem die Messe begonnen hat. Im übrigen waren sie gutartige und gutgelaunte Strolche, die niemandem ein Leid antaten und deren unwandelbarer Entschluß es bloß war, möglichst vergnügt und unbe-lästigt durch das Dasein auf dieser schönen Welt zu kommen.

„Wir sind zwei arme Handwerksburschen und wir suchen Arbeit“, sagte Gongora, der sich als erster gefaßt hatte. Lope stand hinter ihm und schielte scheu zum Fenster hinauf, wo der Kopf des Gänsegeiers langsam hin und her pendelte und zwei trübe Äuglein mißtrauisch herabblickten.

Auch Don Pedro y Argote hatte sein Steckenpferd, wie es einem alten Manne rechtmäßig zukommt: er sammelte Teppiche. Alle nur denkbaren Arten von Teppichen, große und kleine, persische und indisdie, viereckige und runde, spanische und italienische, dicke und dünne erfüllten das Schlößchen und waren dessen kostbarster Reichtum, kostbarer, als Don Pedro es selbst je erträumen mochte, denn es waren seltene Stücke darunter, Trophäen eines langen Sammlerlebens. Es war nun aber so, daß Don Pedro selbst schon sehr alt war, älter, als er selbst wußte, und das Gesinde war mit ihm alt geworden, sehr alt. Da war der alte Stallknecht, der bei Tisch auch die Speisen auftrug und dessen Hände schon so sehr zitterten, daß er meistens von den Suppen und Soßen etwas verschüttete. Dann der steinalte Haushofmeister und Mundschenk, der aussah, als sei er eben dem Grabe entstiegen. Der uralte Gärtner, der schon so schwach war, daß er mit seiner Harke kaum mehr den trockenen Boden seiner großen Gärten zu ritzen vermochte. Und schließlich die ganz alte Ködiin, die fast gar nicht mehr gehen konnte. Dolores hieß sie, und sie hatte sich dereinst, als sie das Alter nahen fühlte, ihr Bett in die Küche geschoben, in dem sie nun schlief und von dem sie aus kochte, immer noch kochte, und zwar die leckersten Speisen, die man wohl überhaupt in einem der prachtvollen, wurmstichigen Landschlößchen zwischen dem Ebro und den Pyrenäen bekommen konnte. Der älteste von allen aber war ein Soldat, ein treuer und braver Soldat, der Don Pedro in zahllosen Schlachten begleitet und aufgepaßt hatte, daß ihm nichts geschähe, denn Don Pedro verfügte über den Mut eines wilden Löwen. Und dieser Soldat war der rüstigste von allen, er trug sich aufrecht wie ein Ladestock, und in den Nächten ging er um das Schlößchen herum und bewachte es. Alles war alt in diesem prachtvollen Schlößchen, die Palmen in der Loggia waren alt, die Tauben am Dache waren alt, und ganz besonders alt waren die Hühner im Hühnerhof, so daß Dolores ihre ganze Kunst aufwenden mußte, wenn Don Pedro ein Huhn als Braten auf die Sonntagstafel befahl.

Aus diesen Gründen war es verständlich, daß es niemanden im Schlößchen gab, der imstande gewesen wäre, die zahllosen Teppiche, die Ergebnisse eines langen Sammlerlebens, die sämtliche Räume des Schlößchens erfüllten, einmal gründlich auszuklopfen. Dieses bedachte nun Don Pedro, und er entsann sich, daß wohl fünfzig Sommer oder mehr ins Land gegangen sein mochten, seitdem seine Lieblinge, die echten Perser vor allem, die er nicht müde wurde zu betrachten und hin und her zu tragen in den Räumen seines Schlößchens, ordentlich ausgeklopft worden waren. Der einzige, der in dieser Sache vielleicht noch etwas hätte ausrichten können, wäre der treue und brave Soldat gewesen, aber dieser schlief am Tage, von seinen aufmerksamen Nachtwachen ehrlich ermüdet, und es war nicht sehr empfehlenswert, ihn vor dem Einbruch der Nacht zu wecken, denn er verfügte von seinem langen Leben im Felde her über die umfangreichste Sammlung von Flüchen, die sich ein Mensch vorstellen konnte, auch ein kostbarer Schatz, an der Zahl vielleicht noch größer als die Sammlung Don Pedros, seines Herrn.

J-Iört zu, ihr Tagediebe“, sagte Don Pedro deshalb, und sein kahler dürrer Kopf zitterte ein wenig, als er es sagte, hört zu, ihr staubijen Strolche, versteht ihr etwas vom Teppichklopfen?“ „Ja, gewiß“, sagte Gongora, der der Beherztere war, „gewiß Don Pedro, wir bestreiten unseren Lebensunterhalt hauptsächlich durch das Klopfen von Teppichen.“

Es muß daran erinnert werden, daß Gongora und Lope leere Ranzel und leere Mägen hatten — in Wirklichkeit hatten sie noch niemals etwas mit Teppichen zu tun gehabt.

„Nun, ihr Kerle“, sagte Don Pedro, „so kommt also herein, ich habe da einige Teppiche zu klopfen. Stellt euch ans Tor und wartet. Der Haushofmeister wird euch selbst öffnen, über das Entgelt reden wir später. Aber merkt euch, ihr Roßdiebe: gestohlen wird nichts im Schlosse des Don Pedro y Argote.“

Gongora und Lope stieg das Blut siedenheiß zu Kopfe. „Vergeßt nicht, daß Ihr es mit Caballeros zu tun habt!“ schrien sie wie aus einem Munde, aber Don Pedro hatte das kreischende Fenster schon wieder geschlossen.

Sie blickten einander an und hatten nicht schlechte Lust, weiterzuwandern und Don Pedro mit seinen Teppichen sitzenzulassen. Aber der Hunger war groß, und das nächste Dorf war weit, unQ so stellten sie sich eben an das kostbar geschnitzte, wurmstichige Tor und warteten. Jedermann wird begreifen, daß ihnen nach dieser Behandlung das eigentliche, wirkliche Vergnügen an der Arbeit vergangen war, nur noch das Gebot der Not allein war es, dem sie gehorchten. Das Tor öffnete sich lautlos, denn die Gelenke, in denen es hing, waren schon so mürbe, daß sie nicht mehr imstande waren, einen Ton von sich zu geben, was angesichts ihres altehrwürdigen Daseins nicht wundernehmen konnte.

Der Haushofmeister stand da in der großen und kühlen Einfahrt, neben ihm der Gärtner und im Hintergrunde Don Pedro, der seine ganze Schar zusammengerufen hatte, den Strolchen einen Schrecken einzujagen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kämen. Bei den Leuten von der Landstraße konnte man nie wissen, was sie eigentlich im Schilde führten. Auch Camillo, der brave Soldat, war zur Stelle, der ungewohnte Lärm hatte ihn aufgeschreckt, er stand wie eine Säule und rollte die Augen.

Gongora und Lope begannen also mit ihrer Arbeit. Sie mußten immer einige Teppiche in die Loggia hinabtragen und dort unter der Aufsicht des Soldaten klopfen. Auf die Wiese zu gehen, wurde ihnen nicht gestattet, denn es wäre möglich gewesen, daß sie mit einem oder einigen der edlen Perser das Weite gesucht hätten, und es gab ja niemanden im Schlößchen, der es an Schnelligkeit mit zwei solchen wohlausgeruhten Strolchen aufnehmen konnte. Ihnen war es recht, hatten sie doch keineswegs die Absicht, etwas zu stehlen, und der Weg zur Loggia war kürzer, als er es zur Wiese gewesen wäre. Der Haushofmeister drückte ihnen zwei uralte Stöcke in die Hand, und sie begannen zu klopfen. Sie waren stark und jung und klopften auf Deubel-komm-raus. Sie klopften, daß die Loggia sich mit weißgrauem Staub erfüllte wie im dicksten Nebel im Winter an der Küste der Biskaya. Sie klopften, daß sich weißgraue Wolken erhoben bis an den Himmelssaum. Und sie klopften schließlich so sehr, daß der Staub in Schwaden aus allen den unzähligen Fugen und Rissen des Schlößchens herausquoll wie heller Rauch, und ungefähr jede Stunde einmal ein erschrockener Wanderer ans Tor schlug und nachfragte, wo es denn brenne. Der Soldat hielt tapfer aus, er war den Staub aus vielen Schlachten gewohnt und machte sich nichts daraus. Wenn er auch die beiden Strolche schon längst nicht mehr sah, so hörte er doch am Klopfen, daß sie noch da waren.

Um die Mittagszeit bekamen die Strolche eine staubige Hühnerbrühe und einen staubigen Laib uralten Brotes, „über das Entgelt wird später geredet“, sagte der Gärtner, der die Speise brachte, „und es sind ja noch etliche Teppiche da.“

Es muß nun eingefügt werden,' daß Gongora und Lope eine größere Reise vorhatten, die eine Menge Geld kosten würde. Vortrefflich, dachten sie also, als der Gärtner zu ihnen gesprochen hatte, vortrefflich! Je mehr Teppiche wir klopfen, um so mehr Geld kriegen wir, er kann gar nicht genug Teppiche für uns haben, Don Pedro, die alte Vogelscheuche. Und so klopften sie den ganzen Tag bis in den Abend hinein. Sie klopften auch noch am nächsten Tage und am übernächsten, denn das alte Schlößchen des Don Pedro y Argote besaß neunundzwanzig Räume, die Gänge und Fluren nicht gerechnet, und alle waren sie mit Teppichen vollgestopft, mit edlen Teppichen, den Ergebnissen eines langen Sammlerlebens.

Am Nachmittag des sechsten Tages waren sie fertig, und es paßte gut, denn es war gerade Samstag, und am Sonntag wollten sie ein wenig feiern, ehe sie weiterzogen in das unwirtliche Land der Pyrenäen, wohin sie nur die Pflicht rief, eine Erbtante Lopes zu besuchen, nicht das Vergnügen. Sie beendeten also das Klopfen und tasteten sich durch die Gänge, in denen Staubschwaden wogten, so daß man kaum die Hand vor dem Auge sehen konnte, und legten die letzten friscbgeklopften Teppiche auf einen Stapel zu den übrigen.

Dann machten sie sich auf die Suche nach Don Pedro, um ihr Entgelt entgegenzunehmen, daß er ihnen am ersten Tage versprochen hatte. Sie fanden ihn schließlich in der Bibliothek, durch die der Staub besonders heftig wallte, denn sie war der Loggia unmittelbar benachbart. Er saß würdig in einem geschnitzten thronähnlichen Stuhl, las in einem staubigen Buche und hatte ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase gebunden, was ihm ein eigentümliches Aussehen verlieh. „Wir kommen um unser Entgelt, Don Pedro y Argote“, sagte Gongora feierlich, und Lope setzte bescheiden hinzu: „Es war viel Arbeit, Herr...“

„Entgelt?“ fragte Don Pedro höchlich erstaunt, „ja, ihr staubigen Vagabunden, habt ihr denn nicht eine Woche lang von der Kost aus der Küche meines Schlosses gelebt? Was wollt ihr da noch?“ Gongora und Lope standen sprachlos, sie benötigten einige Augenblicke, um diese Ungeheuerlichkeit ganz zu begreifen.

Don Pedro aber erhob sich, ging einige Schritte von hinnen und krammte in einer Schublade. „Aber“, hüstelte er und blickte sich immer wieder einmal um, ob die beiden auch nichts stählen, „aber, damit ihr nicht im Lande verbreitet, daß Don Pedro y Argote da Cavalcanta etwa unsozial sei, will ich euch nun noch aus freien Stücken — merkt euch das: aus freien Stücken! — beschenken, ihr Tagediebe...“ Er kramte sehr lange und kehrte schließlich langsam und zögernd zurück. „Hier!“ sagte er, „nehmt und geht in Frieden...“ Und damit drückte er jedem einen Viertelpeso in die bereitwillig aufgehaltene Hand. Inzwischen waren auch die anderen Mitglieder des Hausstandes erschienen: der staubige Gärtner, der staubige Stallbursche, der staubige Haushofmeister und der ganz besonders staubige Soldat. Sie stellten sich in die Nähe ihres Herrn, und man sah, daß sie zu allem bereit waren. Aus diesem Grunde wagten es Gongora und Lope nicht, etwas Besonderes zu unternehmen. Gongora, der auch jetzt wieder der Beherztere war, warf Don Pedro lediglich die Münze vor die Füße (in Wirklichkeit war es freilich nur ein Hosenknopf, aber das konnte ja infolge des noch immer stark auf- und abwallenden Staubes niemand sehen) und spuckte kräftig aus. Lope spuckte etwas weniger heftig hinterdrein, und dann machten sie sich aus dem Staube, was in diesem

Falle sowohl bildlich als auch wörLlich zu verstehen war.

„Ich werde Kommunist und Nihilist“, sagte Gongora, als sie das prachtvoll geschnitzte, mürbe, alte Tor durchschritten hatten. „Ich werde Anarchist“, schrie Lope, dem ebenfalls eine unbändige Wut die Eingeweide zu zerfressen drohte.

„Verfluchter alter Menschenschinder!“ lobte Gongora, „der Satan soll hunderttausendmal durch seinen staubigen Hintern ein- und ausfahren!“ „So sei es!“ sprach Lope und sie schritten verdrießlich von dannen.

Sie erreichten eine Anhöhe in der Nähe des Schlößchens und schauten zurück, immer noch von gerechtem Zorne erfüllt. Der Staub wallte und wogte immer noch um das Schlößchen, die Abendsonne schien aus dem Westen und machte, daß die hohen auf- und abziehenden Wolken rötlich glühten. Es war ein feenhafter Anblick.

Als sie das Hügelchen hinabschritten, stand da ein kleines Haus. Es gehörte einem steinalten, eisgrauen Weiblein, das dermaleinst die Amme des Don Pedro y Argote da Cavalcanta gewesen war und nun seinen Lebensabend hier in Frieden verbrachte.

Gongora und Pedro, die die Gewohnheit hatten, an keiner Türe vorbeizugehen, ohne anzuklopfen, klopften an und baten um eine milde Gabe. „Ja, wo kommt ihr denn her, Caballeros?“ fragte das alte Mütterchen, „ihr seid ja ganz voller Staub!“

„Wir haben bei Don Pedro Teppiche geklopft“, entgegnete Gongora, „dieser Großvater einer Hündin hat uns nur einen Viertelpeso gegeben. 'Sechs Tage haben wir uns geplagt.“

„Oh, oh“, machte das Mütterchen, das auch die guten Zeiten derer von Argote da Cavalcanta noch erlebt hatte, und bekreuzigte sich, „ihr dürft nicht so fluchen, Caballeros, das gehört sich nicht.“ Sie verschwand in ihrem Häuschen, kehrte mit einer Kleiderbürste zurück und bürstete die beiden Strolche erst einmal vom Scheitel bis zur Sohle aufs gründlichste ab. Und dann ging sie, die sich eine große Liebe und Anhänglichkeit an Don Pedro bewahrt hatte, abermals ins Häuschen und kam mit einer Handvoll Pesos wieder. Don Pedros Ruf sollte keine Einbuße erleiden. „Hier, Caballeros“, sagte sie, „nehmt, nehmt, als ob es euch Don Pedro selber gegeben hätte.“

Gongora und Lope blickten einander verlegen an. Schließlich dachten sie an die Reise, die sie vorhatten und die eine Menge Geld kosten würde — da nahmen sie das Geld und dankten und machten sich wieder auf den Weg.

„Ich weiß nicht“, sagte Gongora nach einer Weile und nachdem sie ein gutes Stück gegangen waren, „ich weiß nicht, was es ist, aber ich habe im Grunde genommen keine Lust mehr, Kommunist und Nihilist zu werden.“ „Merkwürdig“, entgegnete Lope und schneuzte sich kräftig, „auch ich habe eben daran gedacht, daß ich eigentlich doch nicht das Zeug zu einem Anarchisten habe.“

Sie setzten sich an den Straßenrand und teilten brüderlich das Geld, das sie bekommen hatten. Und siehe, es waren zwölf Pesos, zwölf Pesos pro Mann und Nase, und das war viel, wenn man bedenkt, daß sie eben nur angeklopft und die Hand aufgehalten hatten.

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