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Digital In Arbeit

Ein Hasenschlaf

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Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein, mit glatten Köpfen und die nachts gut schlafen.“ Bei Shakespeares Julius Cäsar hätte ich nichts verloren gehabt. Sowohl geschlechtsspezifisch als auch der geringen Schlaffähigkeit wegen. Schon meine Mutter behauptete immer, ich hätte einen Hasenschlaf. Es kommt mir tatsächlich manchmal vor, ich schliefe überhaupt kaum richtig tief, sondern döste so vor mich hin, um beim leisesten Geräusch hellwach zu sein.

Das endgültige Aus für die Nachtruhe erfolgt um drei Uhr morgens. Vermutlich, weil in der Stille der Nacht das Geratter eines besonders langen Güterzugs vom Waldrand her besonders deutlich widerhallt. Im Unterschied zur Personenbeförderung scheint sich die OBB beim nächtlich-automatischen Weckdienst erlesener Pünktlichkeit zu befleißigen. Die Chinesen, glaube ich, benutzten Schlafentzug als Tortur. Nun, als Tortur empfinde ich es nicht. Erstens gibt es sowohl in der Schulmedizin als auch in der Homöopathie eine Unzahl guter und schlechterer Mittel, vom Baldrian, der einem als Draufgabe noch alle Katzen der Umgebung anlockt, bis zum umstrittenen Veronal, das manch einem bei Mißbrauch schon den ewigen Schlaf beschert hat. Nein, ich nütze die wachen Stunden zwischen Nacht und Tag, um an die vielen zu denken, die nächtens arbeiten müssen.

Zum Beispiel das Zugspersonal eben dieses wachkreischenden Störenfrieds und ihre weltweit ratternden Kollegen. Oder an die Millionen weißer Engel in den Krankenhäusern, auf deren Anflattem manch Schmerzgeplagter sehnlich wartet. Dann die Freunde und Helfer, die in kahlen, neonerleuchteten Amtsstuben stille oder laute Zecher zu ernüchtern verstehen. Noch schlimmer dran sind ihre Kollegen mit dem Bundesadlerblick im Streifenwagen, die als moderne Nachtwächter lieber andere blasen lassen. Auch wer auf der Flucht ist, wird kaum ruhig schlafen. Ob so einem der Psalm „Ich lege mich nieder und schlafe ein, denn du, Herr, läßt mich sorglos ruhen“ Trost zu spenden vermag?

Manchmal allerdings ist mir diese stille, mondverklärte oder wind- durchrauschte Nachtidylle nicht gegönnt. Dann wird das Morgengrauen zum Morgengrausen und alle Alpträume, die das immerwache Him durchgeistem, scheinen Wirklichkeit Zu werden. Dann bleibt auch für mich nur die Flucht in die Arbeit.

Entweder beginnen, den Bügelwäscheberg abzutragen, längst fällige Briefe zu beantworten oder sich einfach an die Schreibmaschine zu setzen, um über den Hasenschlaf zu sinnieren. Und ein bißchen über die Ungereimtheiten maulen, die es schon seit biblischen Zeiten gibt: „Es ist umsonst, daß ihr früh aufsteht und euch spät erst niedersetzt, um das Brot der Mühe zu essen. Denn seinen Freunden gibt der Herr es schlafend.“

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