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Eine Nacht mit Ben Gola

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Nach einer sturmgeschüttelten Seereise von zwei Tagen, einem fünfstündigen Herumlungern am Hafenkai und einem gut ein- stündigen Marsch bergan hatten wir endlich das ruinenhafte Kastell hoch über Ajaccio erreicht. Es war nicht sehr groß, nur zu ebener Erde gab es noch einige leidlich bewohnbare Räume, die zur Not ein primitives Nachtquartier für hundert Leute abgaben, jetzt aber über vierhundert Leute fassen mußten.

Als wir das Kastell erreichten, begann es schon zu dämmern. Bis wir jeder eine Andeutung von Platz für uns gefunden, war es Nacht geworden. Wir waren müde, unbeschreiblich müde. Unsere Bewachung, algerische Schützen, hatten bisher keinem von uns etwas zuleide getan, da und dort hatten sie sich sogar, wenn einen von uns die Schwäche übermannte und er nicht mehr weiterzukönnen glaubte, als freundlich und hilfreich erwiesen. Zuletzt waren wir aber schon so abgestumpft vor Erschöpfung, daß uns alles gleichgültig geworden war, wir selbst über leibhaftige Teufel mit bewußtseinsleeren Augen hinweggeschaut und nur den einen Wunsch empfunden hätten, hinzusinken und zu schlafen.

Auch ich dachte zuerst, daß ich schon im Augenblick des Hinsinkens in einen todähnlichen Schlaf fallen würde, der bis zum nächsten Licht währte.

Und dann lag ich, lag sonderbar verkrümmt, weil ich anders überhaupt nicht liegen hätte können, und die Dunkelheit um mich heraum war schwer, lastend, atembeklemmend. Die anderen waren wirklich alle im Augenblick des Hinsinkens eingeschlafen.

Und ich allein lag wach. Der gute Bruder mit den tausend mal tausend Gesichtern hatte mich verlassen oder vergessen. In mir stand plötzlich die Frage nach der eigenen Wirklichkeit. Die Zeit bäumte sich aus ihren altgewohnten Begriffen. Acht Tage wurden tausend Jahre, die hinter mir lagen. Dort lag auch die Hölle des Krieges, die man im Augenblick des Erlebens nicht erkannte, und in der man ein Teufel war, ohne dies zu wissen. Auf einem ganz anderen Stern, unüberbrückbare Raumweiten von mir entfernt, mochte diese Hölle weitertoben, mich ging das nur mehr so wenig an wie einen vToten das Leben. Hinter diesen tausend Jahren lag auch alles, was mich sonst noch erfüllt: Liebe, Zukunft, Heimat, Wünsche und Hoffnungen.

Mit einem auftauchenden alten Bewußtseinsschimmer wußte idi plötzlich, daß ich schon sehr, sehr lange so gelegen haben mußte. Jedes Glied meines Körpers zeigte mir durch heftige Schmerzen an, daß eine Veränderung meiner Lage zur unabweisbaren Notwendigkeit geworden war. Zugleich hatte ich auch das Gefühl, in dieser bis an die Grenze des Möglichen sauerstoffarm gewordenen Luft ersticken zu müssen.

Auf wie viele Beine, Hände, Körper ja selbst Köpfe ich in der folgenden Minute trat, werden ich niemals wissen, aber als ich dann über einige Stufen ins Freie hinausstolperte, war dies so, als tauchte ich nach einem glühendheißen Tag in eine köstlich abendkühle Flut ein. Die reine, duftende Luft tat meinen Lungen fast weh, ich atmete so gierig tief ein, daß ich ein überdehntes Knacken in der Brust zu hören glaubte, während in meinem Kopf die Nebel eines jähen Rausches wallten.

Als ich wieder klar 6ah, erfaßte mein Blick das hohe Leuchten der halbsüdlichen Nacht, die im Mondlosen blühende Welt der Sterne, und in diesem unsäglich dünnen Sonnenschein — stand eine Gestalt vor mir.

Ich brauchte noch eine kleine Weile, bis ich begriff, daß ich da einen unserer arabischen Wachtposten vor mir hatte, und eine so starke Angst, wie ich sie in keiner Stunde des Krieges verspürt, krallte mich an; Wenn der Posten mich jetzt in das Loch der Erstickung zurückjagte, mußte ich 6terben.

„Du — nix schlafen?“ Dieses gebrochene, mühevolle Deutsch klang mir schöner in das Ohr als jemals das herrlichste Lied.

„Keine Luft — nix atmen — —“, versuchte ich zu erklären.

Der Araber trat einen Schritt näher. Im Sternlicht blitzten sein aufgepflanztes Seitengewehr und — seine Augen: „Du nix laufen fort — du dich setzen da hin. Ich sprechen viel deutsch. Vous parle mit Ben Gola.“

Mir war, als hätte ich ein ganz großes Geschenk erhalten. Ida durfte heraußen bleiben. Und dieser Araber sprach etwas deutsch — viel deutsch, wie er behauptete.

Dann hockte sich Ben Gok — so verstand ich seinen Namen, wahrscheinlich gehörte er aber ganz anders geschrieben —• neben mich hin. Um uns und über uns war nur die leuchtende Nacht; das hauchfeine Lichtgeschenk der Sonnen aller Fernen hob unsere Gesichter ins Erkennen.

„Du — viel traurig?“

„Viel müde — viel dumm — —“ Ich wußte nicht, wie ich ihm meinen Zustand erklären sollte. Meinem Gefühl nach gab es überhaupt keine Worte, die ihn hätten zum Ausdruck bringen können.

Ben Gola aber nickte: „Du viel weit fort. Du nix wissen von dein Zelt, deine Herden. Ben Gola auch viel weit fort — viel müde viel traurig “

In einer bösen Aufwallung sagte ich: „Ich hätte dazusehen sollen, rechtzeitig tot zu sein “

Auch jetzt verstand mich Ben Gola. Seine Augen funkelten stärker: „Du nicht das sagen! Ben Gola nie das denken. Er gehen einmal zu sein Zelt und seine Herden. Du gehen auch. Du sein prisonnier — Ben Gola sein prisonnier. Nu nix denken gut “

Staunen faßte mich an. Dieser halbwilde Wüstensohn, der wahrscheinlich nicht einmal lesen und schreiben konnte, redete zu mir, dem hochzivilisierten Europäer, wie ein Lehrer zu seinem Schüler. Und dies nicht in einer gewollten oder gesuchten Absicht, sondern schlicht und naturstark aus sich heraus. Ich wollte mich auflehnen dagegen und erkannte im gleichen Augenblick, daß ich mich mit einer solchen Auflehnung vor mir selber lächerlich gemacht hätte.

„Du nix denken, wie Allah will. Du nix wissen, wie Allah wird wollen. Ben Gola toujour traurig und müde in fremde Land. Wenn Ben Gola denken, dann toujour; Allah il Allah. Und dann er froh sein!“

Ben Gola wandte sein Gesicht gegen Osten und ich folgte mit meinem Gesichte dieser Wendung.

Dort, im Osten, stieg ein Schimmer hoch, der noch nicht neues Licht war, sondern erst die Verheißung eines solchen. Doch rührte es mich an wie eine schimmernde Hut. Wehender Seidenschleier einer Zeit, die schönstes Licht brachte.

Die leuchtende Nacht wurde noch heller. Weil mir schien, als ob Ben Gola betete, verhielt ich mich ganz ruhig, heute glaube ich, daß ich mit ihm gebetet habe. Dabei wurde mir ein klein wenig kühl, doch wuchs mir aus dieser Kühle die fast alles durchschauende Klarheit am Rande von Zeit und Entfernung.

Bis zum vollen Lichtwerden saß ich mit Ben Gola beisammen, wir redeten noch manches miteinander, wir lebten miteinander diese leuchtende Nacht zu Ende, und wenn ich später einmal in eine verzweifelte oder hoffnungslose Stimmung versinken wollte, dann hörte ich plötzlich, umstrahlt vom Traumlicht einer leuchtenden Nacht, die Stimme Ben Golas.

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