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Es ist alle Tage Weihnachten

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Nachdem sie das Dorf und das Gelände in zwei Kilometer Umkreis durchstreift und nichts gefunden hatten, jagten sie die Dorfbewohner aus den Hütten, trieben sie in eine Schottergrube und umstellten diese mit ein paar Posten. Lösung war das natürlich keine. Außerdem war in zwei Stunden Nacht. Die Zusammengetriebenen wagten sich kaum zu rühren. Einen Augenblick war es ganz ruhig, aber die Stille war bedrückend. „Morgen ist Weihnachten, Sergeant“, sagte der eine Soldat. Der Angesprochene nackte und lächelte bitter. „Ja. Und bei dieser Gelegenheit spielen wir den Leuten da in dieser Schottergnube die Platte .Christliches Amerika' vor.“ „Mein Gott, der Krieg ist keine Vergnügungsreise. Aber wenn Sie daran denken, was die andern mit uns tun, was die Nordvietnamesen und die Vietkongs mit den vietnamesischen Katholiken treiben...“ „Vielleicht sind unter denen da unten in der Grube auch ein paar Christen. Aber auch, wenn keine drunter sind, glaubst du, daß nach all dem aus ihnen noch welche werden?“ Der Soldat schwieg und zuckte mit den Achseln.

Vor vier Stunden war ihre Kompanie mit Hubschraubern abgesetzt worden, um die Besatzung des Last-wagenkoiwois zu bergen, der heute morgen hier in einen Hinterhalt geraten war. Aber außer vier Toten und zehn ausgebrannten Trucks war nichts mehr zu finden gewesen. Die

Überlebenden mußten vom Vietkong verschleppt worden sein. Wohin, war nicht herauszukriegen. Die Bauern schwiegen, apathisch, haßerfüllt. Und jetzt standen alle, Männer, Frauen, Kinder, Körper an Körper zusammengedrängt, und starrten angstvoll in die Mündungen der Maschinenpistolen.

„Zu Hause zünden sie die Kerzen an, freuen sich an den Geschenken, gehen dann zur Mitternachtsmesse“, träumte der Soldat vor sich hin. Hartes Rattern von Maschinengewehren aus etwa fünfhundert Meter Entfernung schreckte sie auf. Dann wieder Stille. „Wir feiern Weihnachten eben so; außerdem machen wir das ganze Jahr dasselbe, also ist alle Tage Weihnachten.“

„Jetzt wirst du zynisch, Sergeant. Glaubst du eigentlich an Gott und an Jesus?“

„Auf die Gefahr, daß du es nicht für möglich hältst: ich glaube an Gott. Und an Christus. Und an Weihnachten. Und wenn der Sohn Gottes nicht Mensch geworden ist, dann gibt es überhaupt keine Hoffnung mehr auf dieser Welt —“ Dumpfes Brummen in zwei Kilometer Entfernung untenbrach ihn. B-52-Bomber auf dem Flug zum Mekongdelta.

„Aber wo ist hier Hoffnung? Wir führen einen ungerechten, nie erklärten Krieg mit Bomben und Napalm, zerstören die Ernten, entlauben das Land, töten hunderttausende Zivilisten ...“

„Ja, aber, wir ziehen doch nach und nach ab?“

„Warum ziehen wir von hier ab? Weil dieser Krieg grundsätzlich falsch und unmoralisch ist? Nein, weil er zu teuer, zu unpopulär und nicht zu gewinnen ist! Kannst du hinunterschauen auf diese zitternden Menschen in der Grube, ohne daß du dich für uns schämst?“

„Aber du hättest doch nicht in die Army eintreten müssen, Sergeant.“ „Sicher- Aber ich habe das, was wir hier erleben, nicht für möglich gehalten. Und jetzt kann ich nichts anderes tun, als in meinem Bereich das Ängste verhindern.“ Auf einmal ertönten Schreie aus dem Haufen der Vietnamesen in der Grube. Von der anderen Seite kam ein Soldat gelaufen. „Sergeant, da unten bei denen ist irgend etwas los. Es liegt wer am Boden und windet sich in Krämpfen.“

„Laß mich sehen.“ Er ging um die Grube herum, konnte aber im Augenblick in den dicht gedrängten Menschenhaufen nicht hineinsehen. Vielleicht zertrampeln sie einen, der uns etwas verraten wollte. „Platz da!“ Mit einem Sprung war er in der Grube, drängte die Menschen auseinander, einige machten ihm Platz. Ein paar Schritte. Vor ihm am Boden ein Mädchen auf einer schmutzigen Jacke. Vielleicht sechzehn Jahre alt. Neben ihm kniete ein vierzigjähriger Mann, hielt ihm die Hände, blickte auf, sah den Sergeant hüfeheischend an. „Wir sind nicht von hier. Wir sind gestern angekommen. Aus dem Norden. Unser Dorf steht nicht mehr. Meine Frau—“ Der Sergeant erkannte, was los war. Preßwehen. Die Geburt hatte schon begonnen, der Kopf war im Durchtreten. „Die Sanitätskiste!“ brüllte er. Kniete nieder. Dammschutz, dachte er mechanisch. — Nach ein paar Minuten war das Kind geboren. Ein Knabe. Er nabelte ihn ab, wickelte ihn in Verbandstücher und legte ihn in die Arme des Mannes. Als er vom Boden aufstand, überfiel ihn ein leichter Schwindel, er schloß die Augen, war wie in ein'em Trancezustand, wußte gar nicht, was er noch tun sollte.

„Sergeant, zum Kompaniechef!“, hörte er rufen; er wandte sich geistesabwesend um, ging durch die Menschen, kletterte aus' der Grube. Dreißig Schritte weiter stand dier Lieutenant. „Was Neues, Sergeant?“ „Nein, nichts Besonderes.“ Er konnte über das, was er eben erlebt hatte, einfach nicht reden. „Ich habe von der Division den Befehl erhalten, daß wir für den Fall, daß von unseren Leuten niemand gefunden wird, zur Abschreckung für die Zukunft sämtliche Bewohner zu erschießen und das Dorf niederzubrennen haben. Sie führen den Befehl aus. Ich fliege jetzt die erste Hälfte unserer Kompanie zurück, in einer Stunde hole ich Sie und den zweiten Zug.“ Er wandte sich um und ging weg, ohne eine Antwort abzuwarten. „Erster Zug, sammeln!“

Der Soldat blickte den Sergeant von der Seite her an. Dieser war im Gesicht weiß wie eine Wand. „Mörder“ murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen. Der erste Helikopter hob vom Boden ab, die anderen waren schon startberedt. „Nun, Sergeant?“ Der starrte noch regungslos den abfliegenden Hubschraubern nach. „Der macht sich's leicht. — Posten einziehen. Sammeln. Halbe Marschverpflegung an die Dorfbewohner verteilen. Dann abrücken zur Landestelle.“ „Sie führen den Divisionsbefehl nicht aus?“ stammelte der Soldat. Der Sergeant sah ihn mit einem durchdringenden und zugleich jenseitigen Blick an. „Eigentlich müßten wir uns noch vor die Leute hinknien, sie um Verzeihung bitten und ihnen Gold, Weihrauch und Milch für das Neugeborene schenken. — Nein, ich führe diesen Befehl nicht aus. Und jetzt stell' dir einmal folgendes vor: In zwanzig Jahren, wenn hier alles längst vorüber ist, wird der Lieutenant, inzwischen dekoriert und vielleicht zum Major avanciert, ein hochgeachteter Bürger sein, vielleicht Stadtrat oder Abgeordneter im Repräsentantenhaus. Und ich steh' in einer Woche vor dem Kriegsgericht. Und jetzt sag' mir: in wessen Haut möchtest du stecken?“ Der Soldat schwieg. „Es ist nicht nur wegen des neugeborenen Kindes allein, auch nicht, weil morgen Weihnachten ist. Ich hätte den Befehl nie ausgeführt. Denn es ist alle Tage Weihnachten.“

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