550 Seiten Natur-, Mitmenschen- und Selbstbeobachtungen von Peter Handke zeigen den Autor als Sucher nach dem Ereignislosen.
Sicher nicht für jedermann, doch für die Reiselustigen unter uns beneidenswert: Von November 1987 bis Juli 1990 war Peter Handke unterwegs, ohne heimzukommen. Er reiste in, nicht nach Jugoslawien, Ägypten, Frankreich, Deutschland, Japan, Großbritannien, Portugal, Spanien, Italien, Nordafrika, offenbar um Augen und Ohren, Geist und Herz frei zu machen und gleichzeitig zu füllen mit neuen Eindrücken, Gefühlen, Gedanken. Auf den Reisen führte er Tagebuch. "Gestern unterwegs", 550 Seiten, enthält keine Zeile Befindlichkeitsprosa, sondern zeigt einen scharfen Denker, einen wachen Natur-, Mitmenschen- und Selbstbeobachter, einen Sprachen-Verehrer, einen um Erkenntnis Ringenden, einen feinen, sensiblen Menschen, einen Poeten. "Gestern unterwegs" könnte für den Leser ein lebensbegleitendes Buch werden, sind doch wiederkehrende Themen Kindheit und Alter, Zeit und Vergänglichkeit, Suche nach innerer Stille, nach Schönheit. "Wie brauche ich Licht, Raum, Luft zum Bedenken", ruft er sich selber in Dubrovnik zu. Nicht Ereignisse sucht er, sondern das Ereignislose, denn eines seiner Probleme ist: "Ich möchte, an Ort und Stelle, alles sehen - und gerate so in den Wirbel. Lerne, Reisender, die Augen zu schließen"
Keine der Eintragungen hat an ihrem Ende einen Punkt. Das Offene, Unfertige, Prozesshafte wird so sinnlich erfahrbar gemacht. Handke, der in Interviews bisweilen überheblich wirkt und sich durch seine politischen Aussagen viele Feinde gemacht hat, erscheint in diesen Aufzeichnungen als ein Mensch, den man zum Freund haben möchte. Ehrfürchtig ist er vor großen Dichtern; Hölderlin begleitet ihn auf seinen Reisen. Ehrfürchtig staunt er über Wörter: "Treuherzigkeit': schöndingliches Wort - und warum sind solche Wörter verdorben? - Aber sie sollen es nicht sein - die Unverdorbenheit' wiederherstellen"
Das Ziel seines Reisens - es könnte das Ziel jeglichen Reisens sein -, fasst er so: "In der Fremde, der guten: mit dem, was nicht wie zu Hause ist - dem, was endlich nicht so ist -, etwas anfangen" Dabei schwebt ihm ein bestimmtes Lebensgefühl vor: "Das schlichte In-der-Welt-Sein (angesichts, ja angesichts der abgefallenen Blätter jetzt im Morgenlicht von Zadar, mit Alten und Kindern als Passanten, mit Spatzenschreien)
"Beteiligt denken ist Poesie", sagt er an einer Stelle. Seine leidenschaftliches Beteiligtsein vibriert auf jeder Seite; auch in der von jedem überflüssigen Wort befreiten Kargheit schwingt Zärtlichkeit und Weisheit: "Kann man nicht, statt um eine Erfahrung reicher', manchmal sagen: um eine Erfahrung ärmer?'" In Joannina in Nordgriechenland kommt ihm folgender Gedanke: "Der Allmächtigkeitsrausch mancher Muslime (siehe der Pascha von Joannina im 19. Jahrhundert) auch gespeist durch die Vielweiberei'"
"Gesund werden durch Staunen", verordnet er sich selbst: Ein Erziehungsprogramm für junge und alte Um-den-eigenen-Nabel-Kreisende! Handke ist nicht der Tourist, der gierig abhakt, was im Reiseführer steht. Er sucht die Stille, um die Fülle zu finden, die Verbindung zum Schöpferischen. Ein unerschöpfliches Buch: Dieser Dichter ist wirklich furchtlosrege', um ein Lieblingswort von Hölderlin zu verwenden.
Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1999
Von Peter Handke
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2005
553 Seiten, brosch., e 25,-
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