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Gnade

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Ein Mann steht am Fenster im Wagengang des dahindonnernden Zuges. Während seine Füße im Rhythmus der Fahrt das Gleichgewicht zu halten versuchen, flitzen vor seinen Augen Straßengabelungen, Lagerplätze, Fabrikanlagen und eine immer größer anwachsende Zahl von Häusern vorüber. Auch die ausgedehnte Fläche eines Friedhofs mit Kapellen, Zypressen und unzähligen Grabstätten zieht in der Mähe für wenige Augenblicke vorbei. Der Blick des Mannes sucht nach einem bestimmten Punkt in dem zurückbleibcnden Gräbermeer.

Bald darauf hält der Zug in der Station. Eine Unzahl von Reisenden mit allen möglichen Gepäckstücken stürmt in den Waggongang, aber der Mann weicht nicht vom Gangfenster. Einem Prellbock gleich stemmt sich sein Körper der Flut der hinter seinem Röcken geräuschvoll vorbeidrängenden, nach Plätzen suchenden Reisendenschar entgegen; selbst ran seinen Sitzplatz im Abteil kümmert er sich nicht.

Inmitten des turbulenten Bahnsteiggetriebes muß er plötzlich an ein junges Mädchen in dieser Stadt zurückdenken, das ihm einmal alles bedeutet hat. Die zahllosen Stunden,, Wochen und Mbrtafė,’die w Mit ihr ztMäMWen’in senter Jugend verbrächte,- stehen vof-SeitteH’-Atifįin aufe als hätten sie sich all die Zeit über versteckt gehalten und auf diesen nur wenige Minuten währenden Zugaufenthalt gewartet.

Heli hieß seine Jugendliebe. Um in ihrer Nähe zu sein, schwänzte er zahllose Schulstunden und Schultage. Er erinnerte sich mit einmal wieder der gemeinsamen Spaziergänge durch die Parkanlagen des Städtchens und in der Umgebung, die so erlebnisreich verliefen, daß sie beide tagelang davon zehrten. Wie oft waren sie auf dem großen Stadtteich mit dem Boot gerudert und hatten sich den sanften grünblauen Wellen des Sees anvertrautl Wie zaghaft und ängstlich zu Beginn und mit welcher ungestümen Leidenschaft später hatten sie einander ihre Neigung gestanden, sich ihre Gefühle. Sehnsüchte und Wünsche offenbart! Als sie einander ewige Treue schwuren, waren sie beide überzeugt gewesen, daß keine Macht der Welt ihre Herzen jemals wieder voneinander trennen könne.

Der Mann am Fenster atmet schwer, überwältigt von der Flut und Nähe der Erinnerungen. Lind doch waren Heli und er getrennt worden, freilich von einer Macht, die sich noch immer als stärker erwiesen hatte als alle noch so lauten Menschenschwüre. Eines Tages erkrankte Heli ganz plötzlich und starb innerhalb weniger Wochen. An Mangel an roten Blutkörperchen, wie er dann erfahren hatte. Damals hatte er geglaubt, er könne ihren Tod nicht überwinden, so leer fühlte er sein Herz. Dann, als der erste betäubende Schmerz sich in namenlose Traurigkeit verwandelte, faßte er den Vorsatz, die Erinnerung an seine große Liebe als den kostbarsten Schatz durch sein ferneres Leben zu tragen. Und was war daraus geworden? … Der Krieg und die jahrelange Angst um das eigene Leben auf den Schlachtfeldern hatte auch ihn zu einem anderen Menschen geformt. Als ihm wie durch ein Wunder die Rückkehr in den Frieden gelang, hatte er keine Zeit mehr gefunden, seinem Erlebnis in der Jugendzeit nachzutrauern, und eines Tages geheiratet und eine Familie gegründet mit einem lieben Menschen, der ihm jetzt alles bedeutete.

Der Mann am Fenster hält den Kopf leicht geneigt, als höre er inmitten des Bahnsteiglärms irgend etwas. Es ist der Schwur, den er einmal vor vielen Jahren in dieser Stadt getan hat: „Ich kann nicht leben ohne dich!…” Er lächelt plötzlich, obwohl ihm gar nicht zum Lachen zumute ist. Wie gut konnte er doch leben und wie gut hatte er doch gelebt seither! Wohin war der Schmerz verschwunden, der einmal sein Herz umkrampft hielt?… War es nicht so, daß alles sich verflüchtigte, nichts sich als dauerhaft erwies in dieser Welt der Augenblicke? Weder Gefühle noch Schwüre, weder Schmerzen noch Leid, mit denen jeder sich nur selbst täuschte? …

Der Zug fährt wieder an. Der Bahnhof uiid die Stadt bleiben zurück. Nichts ist iibrig- geblieben von all dem, was ich hier einmal fühlte, stellt der Mann nachdenklich fest. Selbst die Erinnerung bleibt höchstens auf die kurze Dauer des Zugaufenthalts beschränkt.

Der Mann will sich vom Fenster abwenden und wieder in sein Abteil zurücktreten. Aber da erblickt er plötzlich draußen vor dem Fenster in der Landschaft einen Acker, auf dem ein Bauer bedächtigen Schritts über die Umgepflügten Erdschollen schreitet, um aus seiner Schürze mit weitausholendem Wurf die Saatkörner zu streuen …

Sind wir Menschen nicht wie dieser Acker? bohrt sich ein Gedanke dem Manne in den Kopf. Gott ist der Sämann. Und wir wachsen und blühen und tragen ein jeder von uns das, was ihm aufgetragen wurde nach Seinem Willen — um doch am Ende wieder alles zu verlieren und kahl zu werden wie ein Stoppelfeld.

Aber dann — nach einer langen Zeit der Qual auf uns, wachst wieder zur Blüte und rundet sich zur Frucht — freilich auch nur wieder für eine Zeit… Aber unsere Herzen sind Acker! Und wenn wir mit den Jahren vergessen, was wir einmal glaubten niemals vergessen zu können, und wenn wir verschmerzen, was wir glaubten, niemals verschmerzen zu können, weil es unser Herz durchbohrte — so ist das Gnade…, gewiß nichts anderes als göttliche, unverdiente Gnade, die wir Menschen in unserem flüchtigen Dasein empfangen …!

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