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Grausige und andere Schnurren

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DIE ERZÄHLUNGEN. Von Wolfdietrich Schnurre. Walter-Verlag, Olten »nd Freiburg im Breisgau, 1966. 455 Selten, DM 12. 0. — DAS HIMMELBLAUBUCH. Von Michail Sostsehenk». dtv. Nr. 362. S 33.50. — DIE SCHULE DES HOCHMUTS. Von Jean Girandoux. dtv. Nr. 3«1. S 30.10.

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DIE ERZÄHLUNGEN. Von Wolfdietrich Schnurre. Walter-Verlag, Olten »nd Freiburg im Breisgau, 1966. 455 Selten, DM 12. 0. — DAS HIMMELBLAUBUCH. Von Michail Sostsehenk». dtv. Nr. 362. S 33.50. — DIE SCHULE DES HOCHMUTS. Von Jean Girandoux. dtv. Nr. 3«1. S 30.10.

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Wolfdietrich Schnurre, heute 46, geboren in Frankfurt, im Herzen Berliner, dessen „Mauer“ eines seiner beliebten Themen ist, als wär’s ein Stück von ihm. Man hat ihn zu Borchert. und Böll gerückt, sein Linkspazifismus (Warum eigentlich gibt es keinen Rechtspazifismus?) weist auf die Epoche von Leonhard Frank („Der Mensch ist gut“) bis Remarque („Der Weg zurück“), und die Erzählung „Das Begräbnis“ in Schnurres Unterteilung „Man sollte dagegen sein“ knüpft an Nietzsches Toten Gott an: „Von keinem geliebt, von keinem gehaßt, starb heute nach langem, mit himmlischer Geduld ertragenem Leiden: Gott.“ Schnurre beginnt 1945 als „Geworfener“ zu schreiben, als ehedem Naziverfolgter, eben noch Deserteur, jetzt heimat- und haltloser Heimkehrer: „Die Erinnerung höhlt mich aus. Die Furcht nimmt mir den Atem. Ich kann nicht mehr.“ Plötzlich aber steht der Satz da, wie eine Schrift an der Wand: „Aber man will sich auch nicht aufgeben." Hier ist anzusetzen. Hier ist der Schlüssel zu seiner innersten Kammer. Ein Trotzdem-Schreiber.

Daher seine kurzen Geschichten unserer kurzatmigen Zeit, daher ihr abgehackter, keuchender Atem: „Steh ich in der Küche auf m Stuhl. Klopft’s. Steig ich runter, leg den Hammer weg und den Nagel; mach auf: Nacht; Regen. Nanu, denk ich, hat doch geklopft. ,Ptsch‘, macht die Dachrinne. ,Ja — V sag ich. Ruft’s hinter mir: ,Hallo!1 Geh ich zurück wieder. Liegt n Brief auf m Tisch." Daher auch das Grausige der nie vergessenen Vergangenheit, der Naziära, des Krieges, der Fluchten, der Besatzungsmächtewillkür. In „Der Funke im Reisig“ schieben sich wie in einem trickmontierten Film das Erlebnis eines Jägers im Walde und die Erinnerung seiner Frau an die von ihm feige geduldete Vergewaltigung durch einen fremden Soldaten in seiner Gegenwart ineinander: „Dann Dora. Bleich verzerrt sah sie ihn an: .Jetzt kannst du schießen —.‘ “ Von den vielen Werken Schnurres in den letzten 20 Jahren, Erzählungen, Gedichten, Hör- und Femsehspielen, Filmen, Schallplatten und sogar Operntexten, hat der vorliegende Band die bekanntesten Erzählungsbücher gesammelt: „Man sollte dagegen sein“, „Eine Rechnung, die nicht aufgeht“ und „Das Los unserer Stadt“ und daran ein knappes Nachwort von Marcel Reich-Ranicki und eine ausführliche Biographie und Bibliographie gereiht. Es ist keine Reiselektüre, sondern es sind anstrengend zu lesende, grausame und absonderliche Geschichten, die sich einen Weg durch das Gestrüpp der Zeit zu bahnen suchen und oftmals in ihrem tödlichen Dschungel enden und verenden.

Schnurre, wem Geschnurr gegeben. O du bitteres Brot des Satirikers: immerfort und ohne Pause lustig, frech und zynisch zu sein. Michail Sostschenko (1895 bis 1958) hat es gegessen. Und noch dazu in Rußland. „Das Himmelblaubuch“ gehört leider nicht zum besten seiner Bücher. Es fehlen ihm die Eckzähne, das scharf Zupackende; es ist nicht rot und nicht schwarz, es ist nicht einmal himmelblau: es ist farblos.

Gäbe es einen Schnurre-Roman, müßte man Giraudoux’ „Schule des Hochmuts“ dazuzählen. Seltsam: Warum bricht dieser Mann aus der Ehe, warum aus der Alten in die Neue Welt, warum zur anderen Frau, zu einem verwahrlosten Buben, warum kehrt er wieder zurück? Das Buch ist, wie sein Autor, ein Fragezeichen.

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