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Herr Faltenwurf

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Die Buchhandlungen in Wien hatten damals im Sommer Im den Samstagnachmittagen geschlossen. Alles, was Beine oder Räder hatte, strömte zum Wochenende hinaus in den Wienerwald, auf die Rax oder an die „alte“ und „neue“ Donau. Es war eine großangelegte Stadtflucht.

Um 13.15 Uhr erschien an einem dieser Samstage ein kleinerer Herr in unserer Buchhandlung, die in einer kurzen Seitenstraße gelegen war. Zunächst fiel mir nichts Besonderes an dem kleineren Herrn auf, er war korrekt, aber einfach gekleidet, hatte rote Wangen und einen zu kleinen Hut. Sein Bücherwunsch war ausgefallen. Buchhändler sind an ausgefallene Bücherwünsche gewöhnt. „Guten Tag, mein Herr!“ grüßte ich. Hoffentlich ist er bald mit seinem Einkauf fertig, dachte ich mir, denn um 13.30 Uhr war Geschäftsschluß und ich war doch froh, wenn ich die Rollbalken herunterlassen und den Literaturbetrieb an den Nagel hängen durfte — über das strahlende Wochenende. „Mit was kann ich dienen?“ zwang mich der kleinere Herr zu fragen, nachdem er meinen Gruß weder erwidert noch einen Wunsch geäußert hatte. Es vergingen etliche Minuten. Der Mann schaute sich erst einmal im Laden um, musterte die vollgestopften Regale und die Auslagentische mit den „Neuerscheinungen“. Die Minuten vergingen langsam, ich stand leicht verärgert hinter der ,.Budl“. Der Mann machte keine Miene, meine Frage jemals zu beantworten. Laß ihn stöbern, dachte ich und wendete mich meinem Schreibpult zu, um die „Bücherzettel“ herauszuschreiben. Der Herr mochte wohl mit einem jungen „Spritzer“, wie ich einer war, nichts zu tun haben. Doch plötzlich schössen ein paar Worte aus seinen gepreßten Lippen hervor, die mich geradezu erschreckten: „Haben Sie etwas über Faltenwurf?“ — Endlich war's heraus. Etwas über Faltenwurf. Ich hatte von meinem tüchtigen Chef gelernt, daß „kein Kunde“ ein Nein auf seine Wünsche hören dürfte. Verlangte einer eine bestimmte Nummer von Reclams-Universalbibliothek, die gerade vergriffen oder nicht lagernd war, so mußte ihm eben etwa ein Bändchen aus der Sammlung Göschen vorgelegt werden, auch wenn der Inhalt nicht im entferntesten dem der gewünschten Reclam-Nummer entsprach. Auf keinen Fall durfte das Verkaufsgespräch schon beim ersten Anhieb versickern. Durch unsere Aufmerksamkeit verstrickten wir „den Kunden“ immer mehr in unsere Netze, zeigten ihr diese und jene „Neuerscheinung“, ermunterten sie zum Kauf des neuen zwanzigbändigen Brockhaus auf Raten und erreichten mehr als einmal schließlich, daß ihre Majestät „der Kunde“ sich die ersten vier erschienenen Bände des Konversationslexikons einpacken ließ und erst unter der Türe beim „Küß die Hand!“ wieder aus der Verzauberung erwachte. ..Was hab ich denn jetzt wieder gemacht? Ein Reclam-Bändchen wollte ich und mit einem Lexikon gehe ich!“ Das alles geschah ohne jede Aufdringlichkeit. Mein Chef mußte magische Kräfte besessen und diese auch auf seinen jungen Gehilfen übertragen haben. Denn die überrumpelten Kunden kamen wieder und wieder zu uns in die Buchhandlung und ließen sich gerne in unserem Netze fangen.

Da war also der kleinere Herr mit Faltenwurf. Ich kannte keinen Großen der Weltgeschichte mit Namen Faltenwurf und war im Augenblick etwas verlegen. Endlich kam ich darauf, daß es was mit Kunst zu tun haben könnte. Ich legte daher den neuen Phaidon-Band über Dürer vor, deutete auf die herrliche Wiedergabe der „Vier Temperamente“, erlaubte mir auch zu bemerken, wie sammetweich und greifbar plastisch sich die Falten in den Gewändern der Evangelisten ausnahmen. Ich wies auf andere Farbtafeln des Bandes, doch der kleinere Herr schüttelte nur den Kopf. „Nein, nein, das ist es nicht, ich wünsche ein Buch über den Faltenwurf, das Gesicht, die Farbe, die Form, der Körper, das ist mir alles ganz egal, mich interessiert lediglich der Faltenwurf.“ Ich gab es nicht auf und kletterte nun die Leiter empor zur Abteilung „Kunst und Kunstgeschichte“. Bald hatte ich einen Stoß Bücher auf der Linken und balancierte mit ihm ohne Unfall bis zum Auslagentisch. Ich legte jedes Buch einzeln mit bedeutungsvollem Augenaufschlag vor „meinem Kunden“ aus: „Kunst und Kitsch“, „Vom Umgang mit Kunstwerken“, „Kleines Lehrbuch für Künstler“, „Kunst und Technik“, „Kurzgefaßte Geschichte der Kunst“, „Indische Kunst“, „Die Kunst der Perser“. Der kleinere Herr schüttelte hartnäckig seinen Kopf. Es war alles vergebens. Ich konnte ihm nicht beikommen. „Danke!“ sagte er und „Auf Wiedersehen!“

Um 14 Uhr zog ich die Rollbalken herunter.

Am nächsten Samstag kam der kleinere Herr wieder in unseren Laden. Um die gleiche Zeit wie Samstag zuvor. Diesmal empfing ihn mein Chef. Wieder das Stöbern und Schmökern zuerst und dann plötzlich die scharfe Frage: „Haben Sie etwas über Faltenwurf?“ — „Faltenwurf? Natürlich, Faltenwurf!“ Mit der sicheren Bewegung des Könners stieg mein Chef auf die Leiter, während ich mit Neugierde den kommenden Dingen zusah. Auch er nahm sich einen Stoß aus der Kunstabteilung und legte jedes Buch einzeln mit unnachahmlicher Gewandtheit dem Manne vor. „Kenn ich alles! Ich suche ein Buch speziell über den Faltenwurf!“ Es spielte sich alles wie zuvor ab. Mein Chef ließ sich nicht beirren, er schlug das erste, beste Buch auf, deutete auf Spitzwegs „Bücherwurm“, dessen Hose voller Naturfalten war. Er wies auf die vielgesichtigen Hosen der Busch'sehen Karikaturen, erwischte eine Marees-Kunst-mappe, deren Tafeln in bezug auf Kleidung und Falten wenig ergiebig war. Als er sah, daß „der Kunde“ noch immer skeptisch dreinblickte, griff er zu Seriöserem: „Großartig“, sagte mein Chef, „da sehen Sie sich einmal diesen Faltenwurf bei der .Iphigenie' Feuerbachs anl“ Er empfahl Leibis „Frauen in der Kirche“, versuchte es mit Rubens und Brueghel dem Aelte-ren. Er wurde nicht müde. Mein Chef war ein Meister des Kundendienstes.

Aber es war alles vergebens. Der kleinere Herr schüttelte nur seinen Kopf. „Danke!“ sagte er endlich und „Auf Wiedersehen!“

Um 14 Uhr zog ich die Rollbalken herunter.

Am nächsten Samstag war er wieder pünktlich da, der kleine Mann, der „Herr Faltenwurf“, wie wir ihn jetzt getauft hatten. Wir gewöhnten uns schließlich an ihn, ja erwarteten ihn schon als Schlußlicht unserer Buchhändlerwoche. Wir schlugen in der Nationalbibliographie bis 1890 zurück, wir legten ihm Bücher über Textilindustrie vor, einmal nickte „Herr Faltenwurf“ beifällig und mein Chef glaubte sich schon seines Sieges sicher. Aber es war doch wieder alles vergebens.

Das ging so während des ganzen langen Sommers. Pünktlich an den Samstagen erschien „Herr Faltenwurf“, stellte automatisch die bekannte Frage, erwartete im übrigen keine Antwort mehr von uns, sondern schaute sich in Gemütsruhe die Auslagentische an. Punkt 14 Uhr verließ er unsere Buchhandlung wieder.

Einmal, während der Prozedur von Stöbern nach „einschlägigen“ Werken und der bekannten Frage, war auch noch eine Dame in den Laden geschlüpft. „Bitte, rasch ein nettes Buch für meine Freundin! Sie hat morgen Geburtstag!“ Das war halt „ein Kunde“. An sogenannten Frauenbüchern war wirklich kein Mangel. Unter „Biographien“ und „Belletristik“ war rasch Passendes gefunden und vorgelegt: „Napoleon und die Frauen“, „Liebe und Leidenschaft“, „Ein Sommer mit ihr“, „Lola Montez und Ludwig von Bayern“, „Don Juan, der große Abenteurer“, „Die letzte Zarin“, „Frauen um Rasputin“, „Maria Stuart, Liebe und Leid einer Königin“ — und zuletzt „Richard Wagner und die Frauen“, „Schopenhauer und die Frauen“. „Die Frau in der Weltgeschichte“. Meine Dame schien sehr kapriziös, je mehr ich ihr vorlegte, desto weniger konnte sie sich entschließen. Nun griff ich zu dem in solchen Lagen unfehlbaren Trick: Ich sagte: „Moment mal, Gnädige, ich weiß etwas ganz Besonderes für Sie!“ Und da nahm ich das nächste, beste Buch aus der schönen Literatur, den „Nachsommer“ Stifters etwa, und legte ihn mit vielsagendem Augenzwinkern auf den Ladentisch, als ob es sich um ein großes, nur für die D'ame bestimmtes Geheimnis handelte. „Das ist das Buch, das Sie suchen!“ Tatsächlich wirkte der alte Trick auch dieses Mal wieder. Meine Dame zahlte und entfleuchte zufrieden in das sommerliche Wochenende.

„Herr Faltenwurf“ hörte dem Verkaufsgespräch zu und erklärte zu unserer Verwunderung nach dem Abgang der Dame: „Sehen Sie, hätten Sie dieser Dame das Buch über den Faltenwurf vorgelegt, dann hätte sie rascher gewählt.“ — „Glauben Sie wirklich?“ erwiderte ich ungläubig. Er glaubte es wirklich.

Er war ein Kauz, der „Herr Faltenwurf“, einer jener Bücherfreunde, die den buchhändlerischen Alltag beleben. Leider sterben sie im Zuge der uniformen Lebensweise des modernen Menschen unserer Tage mehr und mehr aus.

Eines Tages rief uns ein bekannter Wiener Verleger an: „Sagen Sie, Herr Kollege, ich bekam da ein merkwürdiges Manuskript mit Ausschnitten aus Kunsttafeln, ja, Ausschnitte ist zuviel gesagt, Bildschnitzel wäre besser, Bildschnitzel, Aermelstücke, Hosenteile darstellend, oder Halskrausen, Togas, Arbeitskittel, Barette und andere Kleidungsstücke, ja sogar das Lendentuch einer Afrikanerin. Dazu ein furchtbar geschraubter Text und ein vier Bogen umfassendes Register- und Quellenverzeichnis. Das Ganze trägt den Titel: ,Der Faltenwurf in Vergangenheit und Gegenwart' (Vom Vor-Neander-thaler bis zu Picasso). Der Autor schreibt mir, daß in Ihrer Buchhandlung eine starke Nachfrage nach diesem bisher noch ungeschriebenen Buch bestehe! Was sagen Sie dazu, Herr Kollege?“

Was sollten wir sagen. Nun war des Rätsels Lösung gegeben. „Wir kennen den Autor, das ist ja unser .Herr Faltenwurf. Er selbst war es, der die große Nachfrage in Szene setzte!“

Wir warteten schon gespannt auf den kommenden Samstag. Es wurde 13.30 und 13.35 Uhr. „Herr Faltenwurf“ blieb aus. Er kam nie wieder in unsere Buchhandlung. Schade um ihn.

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