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Im Angesicht des Ungeheuers

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Schon die Form, die Arthur Miller dem Schauspiel „Incident at Vichy“ („Zunscherv/all in Vichy“) gegeben hat, ein pausenlos durchgespielter zweistündiger Einakter, ist ungewöhnlich. An einem Septembertag 1942 werden in dem von den Deutschen besetzten Vichy zehn Menschen aufgegriffen. Sie warten im Vorraum der Polizeistation auf das Verhör und lüften nach vorsichtigen Tastgesprächen allmählich ihre Identität, ohne den Namen zu nennen. Der Autor hat seine Gestalten nur als Typen gedacht: der Aristokrat (ein österreichischer Prinz, der vor der „Vulgarität“ der Nazis aus Österreich emigriert ist); der Psychiater Freudscher Richtung (französischer Hauptmann der Reserve und aufrechter Intellektueller); der Maler; der Elektrotechniker (ein Anarchist); der Schauspieler (eitler, korrupter Opportunist); der Kellner; der Geschäftsmann (pfiffiger Kollaborateur); „der“ junge und „der“ alte Jude; der Zigeuner. Bis auf den Österreicher und den Zigeuner sind sie alle Juden. Sie werden „hinein“-gerufen, und keiner kommt aus dem Büro zurück, wo ein Professor des „Rassenamtes“ unter dem widerwilligen Vorsitz eines Invaliden deutschen Majors amtiert und selektiert. Nur der Kollaborateur und der Aristokrat, der einzige „Arier“, gehen frei. Dieser aber gibt seinen Passierschein zur Freiheit dem letzten Häftling, dem jüdischen Psychiater, der damit entfliehen kann. „Nichts existiert mehr“, brüllt der deutsche Major, mit der Pistole herumfuchtelnd, betrunken und angewidert von den Zuständen, die mitzuschaffen man ihn gezwungen hat. „Nichts hat noch irgendeinen Sinn. Wir sind am Ende. Wo gibt es noch einen Menschen?“ Am Schluß steht er stumm und erschüttert diesem einen Menschen ge-

genüber, dem österreichischen Aristokraten, der sich geopfert hat.

Es ist klar, worum es Arthur Miller in diesem Stück, dessen Menschen stellvertretend für die Menschheit stehen sollen, geht: um die Verantwortlichkeit des Individuums, um die Forderung nach der individuellen Entscheidung. Vor dem Hintergrund der ungeheuerlichen Judenausrottung erörtern die Hauptfiguren sittlich-moralische Grundfragen. Am Ende kreist der Dialog zwischen dem Psychiater und dem Aristokraten um die Schuld und die

Frage nach dem Juden. „Jedermann hat seinen Juden, und das ist der andere. Und auch die Juden haben ihre Juden.“ Der andere nämlich, der untergeht, den man überlebt, von dessen Unglück man „nicht betroffen“ ist. Der so spricht, ist der Psychiater, aber als Type ist er nur das Sprachrohr Arthur Millers, was die dramaturgische Problematik dieses handlungsarmen Zeitstückes, in dem zum überwiegenden Teil die Form durch Formulierung ersetzt ist, kennzeichnet.

Regisseur Rudolf Steinboeck hielt sich bei der deutschsprachigen Erstaufführung im Akademietheater vor allem an den Realismus, wodurch manche Akzente verschoben und manches zu reißerisch ausgespielt wurde. Von den fast eineinhalb Dutzend Mitwirkenden seien wenigstens Robert Lindner (Aristokrat), Kurt Meisel (Psychiater), Achim Benninf/ (Major) und Hintz Fabricius in der stummen Rolle des alten Juden genannt. Das Publikum dankte ergriffen.

Jean Anouühs Komödie „Ornifle ou Le Courant d'Air“ heißt im Deutschen „Ornifle oder Der erzürnte Himmel“ und erhält dadurch ganz zu unrecht dräuende Schicksalsakzente. Denn sie ist nichts weiter als eine auf weite Strecken schwank-haft-frivole Paraphrase des Don-Juan-Stoffes. Moliere und Mozart enthüllten noch die Würde im Frevel, ließen noch etwas vom ReSpekt vor Tapferkeit und Würde des Wüstlings anklingen. Anouilhs Ornifle dagegen ist, ins seichtere Heutige verlegt, ein Virtuose des Erfolges, ein Roboter der Sinne, ein Schlemmer, der überhaupt nicht liebt, sondern die Frauen nur im „kleinen Ballett der Begehrlichkeit“ konsumiert. An der Oberfläche ist es das schillernde Spiel eines ebenso witzigen und intelligenten wie frivolen und skrupellosen Verführers; den Kern aber bildet die Verzweiflung des Menschen, der auf der Flucht vor seiner Seele ist. Am Ende trifft den Frevler nicht die Strafe des Himmels in Gestalt von Blitz und Donner; ein zeitgemäßerer Deus ex machina, der Herzinfarkt, bringt ihn zu Fall.

Im Theater in der Josefstadt hält es Erik Frey in der Titelrolle mehr mit der verspielten Ironie, wobei der persönliche Charme noch einiges Gemüt vermuten und über die manchmal ätzende Bitterkeit des Stückes hinweghören läßt. Unter der Regie von Werner Kraut kam eine unterhaltsame Aufführung zustande. Vil-ma Degischer hat als Ornifies Frau noble, zu Herzen gehende Töne. Nicole Heesters überrascht als häßliche, hysterische und rührende Sekretärin und spielt die Rolle mit der Selbstverleugnung einer aparten Könnerin. Marianne NentuAch verkörpert als Mädchen Marguerite eines jener bezaubernden Geschöpfe, wie sie in fast allen Anouiih-Stücken seine — geliebte — Heldin ist, die allein die Macht hat, der alle Welt beherrschenden Lüge zu widerstehen. FritzMuliar als Ornifies Freund ist etwas zu jovial und harmlos, Georg Bucher als Pater um eine Spur zu bieder. Das kitschig-pompöse Bühnbild (Herta Hardter) traf nur recht einseitig den Stil der Komödie. Es gab merkwürdig zurückhaltenden Beifall.

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