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JURKASTOD

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Am Ostersonntag, 1. April 1945, fiel bei Wiener Neustadt der Medizinstudent Jurka v, Hoyer. Im nachstehenden erzählt seine Mutter, Alja Rachmanowa-v. Hoyer, wie sie. vier Tage später in ihrem Salzburger Heim die Nachricht empfing. Ihr Gatte, Dr. Arnulf v. Hoyer, wird hier „Otmar“ genannt. (Aus „Einer von vielen“, II. Band, Rascher-Verlag, Zürich.)

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Am Ostersonntag, 1. April 1945, fiel bei Wiener Neustadt der Medizinstudent Jurka v, Hoyer. Im nachstehenden erzählt seine Mutter, Alja Rachmanowa-v. Hoyer, wie sie. vier Tage später in ihrem Salzburger Heim die Nachricht empfing. Ihr Gatte, Dr. Arnulf v. Hoyer, wird hier „Otmar“ genannt. (Aus „Einer von vielen“, II. Band, Rascher-Verlag, Zürich.)

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Heute ist der 5. April 1945. Wie die Tage nach dem Ostersonntag verflossen sind, was in ihnen geschehen ist, was ich getan habe, weiß ich nicht. Eine Nachricht nur, ein kurzer Satz in der Zeitung, hat sich in mein Hirn eingegraben„ daß nämlich Wiener Neustadt gefallen und Jurkas Kriegsschule zum Einsatz gebracht worden ist. So wie immer bisher, in den letzten Jahren, warte ich auch jetzt noch auf dasselbe, auf eine Nachricht von Jurka. Aber jetzt glaube ich nur mehr an die eine Möglichkeit, daß ich die Nachricht erhalte, er lebe nicht mehr.

Die Glocke läutet. Leise und zaghaft. So läutet kein Bekannter, das kann nur ein Fremder sein. Was will er bei uns? Das erstemal in diesen Tagen, da ich immer aufspringe, sobald nur jemand sich an der Tür meldet, zögere ich. Das Läuten wiederholt sich, ebenso leise und schüchtern wie vorher, und wieder hält mich die Furcht zurück, es könnte etwas Schicksalhaftes bevorstehen, etwas, das nicht mehr ungeschehen gemacht werden könnte.

Ich stürze hinaus. Ja, das ist die Nachricht, auf die ich so gewartet habe! Jetzt ist sie da, und ich kann nicht mehr fliehen! Ich blicke in das müde Gesicht des jungen Soldaten, ich sehe die blauen Augen, in denen noch das Erlebte übermächtig eingeprägt steht, und ich weiß alles. Lind mein erster Gedanke ist: warum mußte es Jurka sein! Hätte er nicht so vor mir stehen können, mit einem verwundeten Arm, wie dieser Soldat?

„Ich möchte Ihnen von Ihrem Sohn erzählen!“ sagt er, mit bebender Stimme.

Otmar und ich können beide kein Wort sprechen. Schweigend führen wir ihn in das Zimmer, zum Diwan, und der Soldat steht uns gegenüber auf der Stelle, an der Jurka stand, als er uns das letztemal in der Nacht besuchte. Niemand spricht ein Wort. Endlich sage ich leise:

„Ef ist gefallen?“

Der Soldat will eine Antwort geben, aber die Tränen ersticken seine Stimme. Er macht ein paarmal eine schluckende Bewegung, und dann sagt er so leise, daß ich den Inhalt seiner Worte mehr errate als verstehe:

„Ja, er ist gefallen!“

Otmar und ich setzen uns auf dem Diwan nieder, auf dem Jurka immer schlief, wenn er zu Hause war. Der Soldat nimmt uns gegenüber auf einem Sessel Platz. Ich lehne meinen Kogf an Otmars Schulter.

„Erzählen Sie uns“, sage ich, und meine Stimme klingt mir so fern und so fremd, als ob ich in dieser Minute ein anderer Mensch geworden wäre.

„Hat er es geahnt, daß er sterben muß?“ frage ich.

„Nein, das hat er bestimmt nicht geahnt!“ gibt der Soldat zur Antwort. „Karsamstag, als wir das erstemal im Einsatz waren, war er sogar sehr unvorsichtig. Er hat fortwährend den Kopf aus dem Graben herausgestreckt, so daß ich ihn als Gruppenführer sogar ermahnen mußte, er solle sein Leben nicht so leichtsinnig riskieren. Und am Abend hat ihm eine Kugel seine Feldmütze durchschossen. Jurka hat sie heruntergenommen, hat sie mir gezeigt und gesagt: Einige Millimeter tiefer, und ich wäre tot. Das ist ein Zeichen, daß ich am Leben bleiben werde!“

Er hat also den Tod erwartet! sage ich mir. Nur hat er sich im Sinne dieses Zeichens getäuscht.

„Um wieviel Uhr ist er gefallen?“ fragt Otmar. Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich seine Stimme jeden Tag gehört, und jetzt erkenne ich sie nicht mehr.

„Es war am Ostersonntag, zwischen drei und halb vier Uhr nachmittag!“ gibt der Soldat zur Antwort, und es ist mir, als ob ich das schon längst gewußt hätte. Es war die Stunde, in der Otmar so merkwürdig auf dem Klavier gespielt hat, in der alles so anders war als sonst, in der wir mit unserem Herzen, ohne daß unser Verstand es wußte, von Jurka Abschied genommen haben.

„Wo ist er verwundet worden?“ fragt Otmar nun.

Der Soldat zeigt auf die Mitte seines Körpers und sagt:

„Hier! Es war ein Lungenschuß!“

Und dann bittet er Otmar, Papier und Bleistift zu nehmen und alles aufzuzeichnen, er selbst könne es wegen seines verwundeten Armes nicht tun.

Otmar nimmt das nächste Stück Papier, das ihm in die Hände kommt, ein großes lila Kuvert, läßt sich den Hergang genau erklären, und der Soldat zeigt ihm mit dem Finger, wo die Straßen, Flußläufe und Stellungen verlaufen. Dann kom- . men zwei zerschossene Häuser, eine Sandgrube, ein Hohlweg.

„Hier ist eine große Ziegelei“, erklärte er weiter, „nicht zu verwechseln mit der in der Nähe liegenden kleinen Ziegelei. Wenn der Krieg zu Ende sein wird, werde ich mit Ihnen hinfahren und .Ihnen, helfen, Jurka zu finden!“,* n „Haben Sie ihn begraben?“ frage ich.

„Nein“, antwortet der Soldat, „wir haben ihn nur leicht mit Erde bedeckt! Wir haben keine Zeit dazu gehabt, die Russen haben ja weiter angegriffen! Als ich den Befehl zum Rückzug geben mußte, liefen wir gegen das Flüßchen und bekamen Maschinengewehrfeuer. Nach zirka hundertfünfzig Metern wurde Jurka verwundet. Er lief noch einige Minuten lang...“

Er macht eine Pause. Das Reden fällt ihm schwer.

„Jurka ist nicht lange gelaufen“, erzählt der Soldat weiter, „er ist auf einmal zusammengebrochen. Ich und ein Kamerad haben ihn dann unter die Arme gefaßt und ihn weiter mitgeschleppt. Wir haben ihn ungefähr achthundert Meter weitergebracht, in eine kleine Mulde, zirka eineinhalb Meter tief. Ich versuchte dort, ihm einen Verband anzulegen. Vielleicht, wenft er nicht gelaufen wäre, wäre es besser gewesen. Aber es ging nicht anders, wir waren ja im Feuer. Dann kam Blut aus seinem Mund, und er war tot.“

„Und sind Sie wirklich sicher, daß er nicht noch gelebt hat?“ frage ich.

„Vollständig sicher!“ gibt er mit einem tiefen Seufzer zur Antwort. „Ich bin zwar noch sehr jung, aber ich habe schon viele Menschen sterben sehen! Ich habe noch am Samstag zwei Kameraden aus dem Feuer retten können, aber bei Jurka, da war es leider nicht mehr möglich!“

„Hat er sehr gelitten?“ frage ich, und ich glaube in meiner Brust den ganzen Schmerz in hundertfachem Maße zu fühlen, den Jurka gespürt haben muß.

„Nein“, antwortet er, „ich glaube wenigstens nicht.“

Seine Worte klingen aber so unsicher, daß ich überzeugt bin, er sagt dies nur, um uns zu schonen.

„Und wie lange hat er noch gelebt nach seiner Verwundung?“ forscht Otmar weiter.

„Vielleicht eine halbe Stunde“, ist seine Antwort.

„Und hat er noch etwas gesprochen?“ frage ich.

„Nein, kein Wort!“ gibt er zur Antwort.

„Kein Wort?“ rufe ich aus. Was muß er gelitten haben, wenn seine armen Lippen während einer halben Stunde kein Wort mehr formen konnten!

„Und von seinen Sachen haben Sie uns nichts bringen können?“ frage ich. „Wenn ich doch nur den Siegelring von ihm hätte, der fünf Jahre nicht von seinem Finger gekommen ist, und den er so sehr geliebt hat!“

„Nein, es war nicht möglich!“ antwortet der Soldat. „Wir mußten weiter, die Russen waren ja hinter uns her, und wir mußten noch einen Fluß durchschwimmen, beide verwundet. Wie wir sahen, daß Jurka tot war, dachten wir nur noch, wie wir selbst uns retten können. In dieser Mulde ist Jurka geblieben, unweit von ihm, in einem Stollen, liegen noch zwei Kameraden von ihm, auch Mediziner, und noch ein Stück weiter zweiundzwanzig andere. Von unserer Abteilung von dreißig Mann sind nur fünf zurückgekommen, und alle auch verwundet. Ich bin jetzt auf dem Weg ins Lazarett. Und ich habe gedacht, es sei meine Pflicht, Ihnen alles mitzuteilen, denn bei dem Chaos, das jetzt herrscht, hätten Sie niemals mehr eine offizielle Nachricht erhalten. Es kommt der Zusammenbruch, und wer weiß, ob dann überhaupt noch jemand bleiben wird, der Ihnen etwas sagen könnte! Ach, wie schade! Er ist als einer der letzten in diesem Krieg gefallen !“

„Einer der letzten!“ wiederhole ich.

Lange kann niemand von uns ein Wort sprechen. Dann frage ich den Soldaten, ob Jurka von uns in der letzten Zeit noch Post bekommen hat.

„Ja, er hat viel bekommen“, gibt er zur Antwort. „Der letzte Brief kam am Samstag, ich habe selbst die Post verteilt. Es waren zwei Zigaretten drin. Eine hat er selbst geraucht, die andere hat er mir gegeben. Er hat immer alles mit uns geteilt!“

Ich möchte noch hundert Fragen stellen. Aber ich kann keinen Gedanken mehr fassen, kein Wort mehr aussprechen. Ich kann nicht einmal mehr weinen. Er sieht mir stumm zu in meiner Qual und sagt dann still und zärtlich:

„Ich bin auch das einzige Kind. Wenn ich nicht heimkomme, wird meine Mutter vor Kummer den Verstand verlieren!“ “* Seine Worte bringen mich wieder ein wenig zu mir selbst zurück. Ich denke daran, daß ich ihm irgend etwas sagen, ihm irgendwei danken müsse. Ich hole ein Exemplar von „Jurka“, dem Buch, das ich einst mit so viel Liebe und mit so viel Hoffnung geschrieben habe, und trotzdem meine Hände so zittern, daß ich kaum schreiben kann, widme ich es ihm mit der schönsten Schrift, deren ich jetzt fähig bin, ihm zur Erinnerung an seinen Kameraden. Er nimmt es und sagt dann:

„Nun ist es Zeit, daß ich gehe. Meinen Zug darf ich nicht versäumen. Wenn Sie noch einmal später von mir etwas brauchen, ich stehe Ihnen immer gerne zur Verfügung.“

Otmar schreibt seine Adresse auf, und dann erhebt sich der Soldat. Wieder steht er an derselben Stelle, wie damals Jurka.in jener Nacht, und er blickt mich so weich und herzlich an, daß ich einen Augenblick meine, mein Kind selber stünde hier vor mir. Ich schaue ihm in seine blauen Augen und suche, ob ich nicht in ihnen einen Abglanz finde von dem letzten Blick, mit dem Jurka im Angesicht des Todes von der Welt Abschied genommen hat. Ich nehme seinen Kopf in beide Hände und küsse ihn auf die Stirn, damit das, was sich hinter ihr von all den Eindrücken verborgen hält, die er von Jurka aufgenommen hat, in meine Seele überströmen möge, auf einem Weg, den nicht Worte öffnen können. Er war der letzte, der ihn gesehen, der letzte, der seinen Körper berührt hat, seine Hand hat das Blut stillen wollen, mit dem Jurkas Leben verronnen ist. ..

Der Soldat ist fortgegangen. Wir sitzen auf Jurkas Kanapee und weinen und weinen. Aber die Tränen können uns keinen Trost bringen.

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