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Digital In Arbeit

„Können Sie überhaupt Geld zählen?6'

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Es passierte an einem Freitag. Ich war mit meinem VW-Bus auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, als ich vermutlich in einer Linkskurve etwas zu weit in die Straßenmitte geraten bin. Ein Lastwagen ist mir entgegengekommen. Der Haken von der Bordwand des Anhängers hat sich in meinem Auto vorne eingehängt und die ganze Seite aufgeschlitzt, wie eine Sardinendose. Dabei wurde meine linke Hand zerquetscht. Erst im Krankenhaus haben die Schmerzen angefangen, und ich bin bewußtlos geworden.

Als ich aufgewacht bin, hat mir die Schwester gezeigt, an welcher Stelle die Ärzte meinen Arm abgenommen haben. Das habe ich eigentlich ganz gut aufgenommen, denn irgendwie habe ich es schon geahnt, nachdem ich aus dem Auto gestiegen bin und mich an einer Wand anhalten wollte, damit ich nicht zusammensinke. Die Hand war vollkommen leblos.

Ganz schrecklich war die Situation für meine Frau, die hat es stark hergenommen. Nach dem Krankenhaus-aufenhalt habe ich in einem Rehabilitationszentrum lernen müssen, mit einer Prothese umzugehen.”

Der gelernte Maler und Anstreicher Helmut Hinke war 31 Jahre alt, als er durch einen Autounfall den ganzen linken Arm verlor. Seinen Beruf konnte er danach nicht mehr ausüben, er machte eine Umschulung zum Buchhalter und Lohnverrechner und war danach mehr als ein Jahr auf Jobsuche. „Das war wirklich sehr zermürbend. Viele Firmen haben gesagt:

,Na, können Sie überhaupt mit einer Hand Geld zählen'?”

Schlußendlich wurde Helmut Hinke dann doch - zunächt unter Vorbehalt - bei einer Versicherungsfirma angestellt. „Das wichtigste nach so einem Unfall ist die Familie. Die ist sehr hinter mir gestanden. Ein bißchen hat mich jedoch gekränkt, daß meine vierjährige Tochter Angst vor mir hatte. Sie hat geweint, wenn ich sie hochnehmen wollte.”

Der Anfang war nicht leicht: „Eine Semmel zu halten ist zum Beispiel schwierig. Da habe ich spezielle Konstruktionen gefunden, ein Brett, das in der Mitte vertieft ist, damit mir die Semmel nicht wegrutscht. Auf so alltägliche Dinge kommt man selber drauf. Mein Koffer ist mir einmal mitten auf der Straße aus der Hand gefallen, weil sich die Prothese unbewußt geöffnet hat. Solche Dinge passieren natürlich. Der Passant hinter mir hat gelacht, weil er nicht gesehen hat, daß ich eine Prothese trage. Einmal ist in der Straßenbahn der automatische Regenschirm aufgegangen. Und jetzt probieren Sie einmal, mit einer Hand in einer vollen Bim den Regenschirm wieder zu schließen, eine Katastrophe”, erzählt Hinke von seinen Anfangsschwierigkeiten im Alltag.

Aber durch viel Übung konnte der zweifache Familienvater bald ein völlig selbstbestimmtes Leben führen. Er renoviert zur Zeit sein Haus und steigt dabei auch auf hohe Leitern. Sport betreibt er mehr als vor dem Unfall: „Ich schwimme und turne sehr viel. Körperlich fühle ich mich besser als je zuvor. Ich bin auch beim Versehrtensportverein gewesen. Das ist eine tolle Sache. Die behinderten Menschen trainieren für die Versehrtenolympiade und sind sehr motiviert. Irgendwie ist das aber klar. Wenn man nämlich so einen Unfall gehabt hat, dann ist das wie ein zweites Leben. Und der Sport hilft einem, dieses zweite Leben besser zu beginnen.”

Möglich wurde diese Selbstständigkeit durch ein kleines Wunderwerk der Orthopädie, die sogenannte myoelektrische Prothese. Sie stammt von der Wiener Tochter der deutschen Firma Otto Bock, die auf dem Gebiet der myöelektrischen Prothesen mit einem Anteil von mehr als 90 Prozent am Weltmarkt führend ist. Mit Sensoren werden elektrische Signale der Muskeln im Stumpf gemessen und über einen Verstärker auf die Prothese übertragen. Das Prinzip ist einfach, wie mein Versuch vor Ort bei der Firma beweist. Am Ober- oder Unterarm werden Elektroden angelegt. Bewegt man das Handgelenk nach oben, öffnet sich die Prothese, bewegt man das Handgelenk nach unten, greift die künstliche Hand zu.

Das Problem der myöelektrischen Prothesen ist, daß man nicht weiß, wie fest man die Gegenstände mit den künstlichen Händen anfaßt. Um dem Abhilfe zu schaffen, wurde ein neuartiges Modell entwickelt. Sie hat im Daumen einen Sensor, der automatisch die Griffstärke überprüft und bei Bedarf den Griff festigt, wenn ein Gegenstand, etwa ein rutschiges, feuchtes Wasserglas, zu entgleiten droht.

Helmut Hinke stellt sich seit langem auch als Testperson für die Firma Otto Bock zur Verfügung. Seit einem knappen Jahr benützt er als erster diese neue Prothese und ist sehr stolz und zufrieden: „Damit kann ich mir jetzt sogar die Schuhbänder selber binden.” Im kommenden Frühjahr sollen diese „gefühlvollen” Hände auch anderen Patienten zugute kommen.

Durch seine Arbeit für die Firma Otto Bock kommt der jetzt 55jährige mit anderen Unfallopfern in Kontakt - auch mit dem Kärntner Polizisten Theo Kelz, der 1994 bei der Explosion einer Rohrbombe beide Unterarme verloren hat. Er erhielt ebenfalls die „magischen Hände” und kann wieder seiner Arbeit nachgehen. „Wenn beide Hände amputiert sind, dann ist es aber wirklich schwierig. Vor allem die Hygiene ist ein katastrophales Problem,” bedauert Hinke den Kärntner Polizisten. „So wie Kelz das gemeistert hat, das ist zu bewundern. Er möchte sogar mit seinem Motorrad eine Weltreise unternehmen.” Viele Versehrte würden es dennoch nicht schaffen, das gewohnte Leben wieder aufzunehmen, sagt Hinke. „Man braucht einen sehr starken Willen.” Helmut Hinke hat es aber ohne Zweifel geschafft. „Ich könnte mir ein Leben ohne meine Prothese eigentlich gar nicht mehr vorstellen.”

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