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Medizin und Musik

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Man hört und liest immer wieder, daß viele Aerzte eine Vorliebe für Musik haben. Ich habe vor mehreren Jahpen in einer fachärztlichen Zeitschrift über dieses Thema „Musik und Medizin ip, Wien“ einen Aufsatz geschrieben. An dieser Stelle will ich meine diesbezüglichen Erinnerungen und Erlebnisse mitteilen.

Die Frage, ob wir unter den Amateuren — das Wort Dilettant will ich vermeiden, da dieses Wort immer wieder gleichbedeutend mit Halbheit und Unvollkommenheit gebraucht wird — mehr Aerzte finden als bei den Angehörigen anderer Berufe, läßt sich schwer beantworten.

Die Vorstellung von Arzt und Musik stammt vor allem daher, daß der große Chirurg Theodor Billroth, der mit Johannes Brahms befreundet war, im musikalischen Leben Wiens eine große Rolle gespielt hat. Daneben gab es und gibt es unter den Aerz- ten in Wien immer eine größere Zahl von musikalischen Könnern und Liebhabern. Unter ihnen fungieren prominente Namen, ejeren Bedeutung für die Musik außer Zweifel steht. Dem Andenken dieser kunstsinnigen Aerzte seien diese Zeilen gewidmet.

Vielleicht besteht doch zwischen der ärztlichen Tätigkeit und der Musik ein engerer Zusammenhang. Dieser Zusammenhang läßt sich nicht ableugnen, aber nicht leicht erklären. Der Arzt gehört zweifellos zu den künstlerischen Berufen. Medizin und Kunst gehören ja auch irgendwie zusammen. Die Tätigkeit des Arztes muß als künstlerische Tätigkeit gewertet werden.

Es ist keine seltene Erscheinung, daß junge Leute, die nach Absolvierung der Mittelschule vor die Frage der Berufswahl gestellt sind, sich nicht recht entscheiden können, ob sje Medizin studieren oder sich ganz der Musik widmen sollen, wenn sie schon in jungen Jahren sich ganz intensiv mit Musik befaßt haben und ein Instrument beherrschen. Dies kommt namentlich in Familien vor, wo auch die Eltern musikalisch sind und ihre Kinder schon in frühester Jugend zum Erlernen eines Instrumentes angehalten haben.

Es ist nun ganz natürlich und fast selbstverständlich, daß gerade in der Musikstadt Wien die erwähnten Beziehungen von Medizin und Musik ganz besonders in Erscheinung treten.

Der geniale Wiener Arzt Leopold Auenbrugger, der die Perkussion, das Beklopfen der Brustwand zur Untersuchung der Lungen, erfunden und diese Erfindung im Jahre 1760 veröffentlicht hat, war ein Künstler. Die Perkussion ist kein Handwerk, sondern eine Kunst, zu der eine besondere Begabung gehört. Auenbrugger war aber auch außerhalb seines Berufes vielseitig, er hatte besondere Vorliebe für Musik, besonders für die Oper, und schrieb auch ein Textbuch zu einer Oper von Salieri, dem Lehrer Beethovens. Seine beiden Töchter waren in Gesang und Klavierspiel vollkommen ausgebildet. So war das Hans Auenbrugger ein Zentrum der Wissenschaft und Kunst, wo alle verkehrten, die einen Namen als Wissenschaftler und Künstler hatten.

Theodor Billroth, der geniale Chirurg, war ein bedeutender Musiker. Ich muß hier auf diese Doppelbegabung etwas näher eingehen. Seine freundschaftlichen Beziehungen zu Johannes Brahms und dem hervorragenden Kritiker Eduard Hanslick sind bekannt. Interessant ist die Entwicklung der freundschaftlichen Beziehungen dieser drei Großen im Bereiche der Kunst und Wissenschaft. Schon als Kind lernte Billroth die Musik im Hause seines Großvaters in Greifswald kennen. Dieses Haus war der musikalische Mittelpunkt der Stadt. Billroths Großmutter war eine anerkannte Sängerin. Auch im Elternhause Billroths wurde die Musik eifrig gepflegt. Im Gymnasium war Billroth ein schlechter Schüler. Durch die Musik wurde er stark vom Lernen abgelenkt, was er selbst in seiner Biographie zugibt. Schon in seiner Berliner Zeit als Assistent der chirurgischen Klinik bis zum Jahre 1860 hatte er rege Beziehungen zur musikalischen Welt und war eifriger Besucher von Konzerten und Opern. In den Jahren 1860 bis 1867 war Billroth in Zürich Direktor der chirurgischen Klinik. In diese Zeit fällt auch die allmähliche Anerkennung der Werke von Brahms. In Zürich hat Billroth auch selbst fleißig musiziert und die Bratsche erlernt, um bei Kammerkonzerten mitwirken zu können. Er musizierte mit musikalischen Kollegen und Freunden im Kreise häuslicher Kammermusik und spielte, je nachdem es gerade notwendig war, Klavier oder Bratsche. Billroth war in Zürich, schon bevor er Brahms persönlich kennenlernte, ein warmer Förderer der Kompositionen von Brahms. Für Brahms war der Briefwechsel mit Billroth ein Bedürfnis geworden. Im Jahre 1865 kam Brahms nach Zürich, um in einem Konzert seine Serenade zu dirigieren; er hatte einen schönen Erfolg. Billroth und Brahms lernten sich im Herbst 1865 persönlich kennen. Für beide Männer bedeutete dies einen Abschnitt im Leben. Als Brahms 1866 nach Wien kam, war Billroth noch in Zürich. Als Billroth 1867 nach Wien kam, war Brahms schon in musikalischen Kreisen bekannt und anerkannt. Billroth hatte stets eine strenge Zeiteinteilung, sonst wäre es auch nicht möglich gewesen, daß er neben seinem Berufe als Direktor der Klinik und Chirurg selbst eifrig musizierte. Billroth war auch musikliterarisch tätig, bekannt ist sein Buch: „Wer ist musikalisch?“ Die Hausmusik im Hause Billroth war stadtbekannt. Hier wurden Kammermusikwerke von Brahms aufgeführt, Berufsmusiker und Dilettanten wirkten mit. Nicht selten wurden Kammermusikwerke von Brahms im Billroth-Hause gespielt, bevor sie in Konzerten öffentlich aufgeführt wurden. Billroth war Chirurg, Wissenschaftler und Musiker in einer Person, für ihn war Musik nicht Beruf, sondern Berufung.

Ein Genie als Diagnostiker und als Musiker war Eduard v. Neusser, der in den Jahren 1893 bis 1912 die II. Medizinische Klinik in Wien leitete. Er war ein glänzender Pianist, besonders als Chopin-Interpret. Unser unvergeßlicher Alfred Grünfeld, einer der größten Pianisten, sagte einmal in einer Gesellschaft, in der auch Neusser Chopin spielte: „Von Ihnen, Herr Professor, kann man Chopin spielen lernen.“ Neusser war ein eifriger Besucher der Wiener Hofoper und heiratete die berühmte Sängerin Paula Jylark.

Auch der Wiener Kliniker Leopold von Schrotte r, Vorstand der III. Medizinischen Klinik um dieselbe Zeit, war in ge-wissem Sinne eine Künstlernatur. Seine Tochter war eine vorzügliche Geigerin.

Der in Amerika verstorbene Nobelpreisträger Karl Landsteiner war ein guter Pianist, der mit besonderer Liebe und Begeisterung Beethoven spielte.

In die Zeit der höchsten Musikkultur in Wien fällt auch die Gründung des Wiener Aerzteorchesters im Jahre 1906. Ungefähr 40 Aerzte und Mediziner spielten in diesem Orchester, sie alle beherrschten die Streichinstrumente ausgezeichnet upd waren mit Begeisterung bei der Sache. Als Bläser kamen Mitglieder des Wiener Hofopernorchesters zu den Proben. Jeden Montag von 21 bis 23 Uhr wurde eifrig geprobt. Ich habe das Orchester geleitet und dirigiert. In jedem Jahr gaben wir mehrere öffentliche Konzerte zu wohltätigen Zwecken. Die Programmgestaltung war nicht leicht, ich mußte auf die technischen Möglichkeiten eines Amateurorchesters Rücksicht nehmen. Im Laufe der Jahre kamen wir mit fleißiger Probenarbeit so weit, daß wir die Symphonien von Michael und Josef Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und Brahms spielten. Das war sehr anregend. In dep Konzerten, zu denen wir die Bläser und zur Verstärkung auch Streicher des Hofopernorchesters engagierten, führten wir Werke von Haydn, Mozart, Schubert und auch die 5. Symphonie von Tschaikowskij auf. Der populäre „Trumpf“ unseres Programmes war immer wjeder die Akademische Festouvertüre von Brahms mit dem prächtigen Gaudeamus- Schluß. Hier erhob sich nach alter akademischer Sitte das Publikum, zu dem auch viele Aerzte mit ihren Damen gehörten, von ihren Sitzen.

In der Inflation der ersten Nachweltkriegszeit war es uns nicht mehr möglich, das Orchester zu halten. Aber in den Jahren 1906 bis 1914 war das Aerzteorchester in Wien ein anerkannter kultureller Faktor. Wii luden bedeutende Solisten zur Mitwirkung bei den Konzerten ein. Ich nenne Selma Kurz, die Gattin des Gynäkologen Prof. Hal- ban, ferner Pablo Casals, Arnold Rose, Alfred Grünfeld, Gertrude Förstl und viele andere.

Ich könnte von musizierenden Wiener Aerzten noch vieles erzählen. Ich habe nur die interessantesten Erinnerungen niedergeschrieben. Unsere Konzertmeister, Professor R e t h i, der Laryngologe, und Professor Strasser, der bekannte Internist, spielten auch daheim eifrig Kammermusik. Die Gattin des Prof. Rethi war eine ausgezeichnete Sopranistin. Wir sehen somit immer wieder die häufigen Zusammenhänge von Musik und Medizin. Ich muß noch einige Namen nennen: Geheimrat Professor Adolf S t ü m p e 11, der in den Jahren 1909 und 1910 eine Wiener Klinik leitete, war ein vortrefflicher Geiger. Er spielte auch in unserem Orchester und fehlte bei keiner Probe. Auch der Berliner Kliniker Professor Wilhelm H i s spielte, wenn er nach Wien zu Besuch kam, wiederholt als Geiger in unserem Orchester mit.

Nach dein Wiener Vorbild wurde auch später in Berlin und Mönchen ein Aerzte- orchester gegründet und, wie ich jetzt hörte, auch in London.

Der Direktor der Döblinger Nervenheilanstalt, Prof. Obersteiner, war ein großer Musikfreund. Sein Sohn spielte Waldhorn, und fast wöchentlich versammelten sich in der genannten Anstalt Wiener Aerzte, um gemeinsam zu musizieren. D?r bekannte Wiener Kliniker Prof. Wenckebach war auch ein Musikfreund. In jungen Jahren war er, wie er mir sagte, Sänger.

Das obenerwähnte Berliner Aerzte- or ehester habe ich auch selbst kennengelernt. Kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges wurde ich nach Berlin eingeladen, um das dortige Orchester zu dirigieren, Ich setzte unseren lieben und schönen Donauwalzer auf das Programm. Nach mehreren Proben hatten sich die Berliner Kollegen in den Wiener Walzerrhy’thmus eingearbeitet, und es ging dann sehr glatt. Die Begeisterung des Berliner Publikums wollte kein Ende nehmen.

Dann kam der zweite Weltkrieg mit allen Schrecken und Grausamkeiten. Die Muse schwieg. Doch ist wieder die Zeit gekommen, da wir mit Befriedigung und Freude feststellen können, daß die Wiener Musikkultur weiterlebt und leben wird.

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