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Melancholische Bretagne

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Noch ein paar Häuser. Noch ein paar winzige Äcker. Noch ein wenig dorniges Gestrüpp, Steine, eine Böschung, dahinter das Meer. Rundherum nur Meer.

Badeparadies der Pariser, wenige Sommermonate lang, an einigen Schwerpunkten. Sonst Melancholie, Lethargie, Dornröschenschlaf einer Landschaft.

Getreide will vor allem in den Küstenregionen nicht recht gedeihen. Der Boden ist steinig, der Wind trägt das bißchen Ackerkrume davon. Dafür wird alles Unkraut riesengroß, vor allem die Disteln, die mannshohe, undurchdringliche Dickichte bilden. Der Autobus rollt endlos an Hecken und niedrigen Steinmauern vorbei, hinter denen winzige Äcker sind, durch Steinmauern und Hecken vom nächsten Acker getrennt, bis zum Meer.

Im Autobus sitzen ein paar alte Frauen, in schwatzen Gewändern und mit seltsamen Kopfbedeckungen. Es sieht aus, als hätten sie gestärkte Taschentücher auf der Frisur befestigt.

Haltestelle. Fahrer und Schaffner entwischen in ein Cafe, um sich zu stärken. Dann geht's weiter, nicht zu schnell.

Ohne Blick für die Weite der Landschaft, mit seltsamen, steifen Bewegungen und hängenden Köpfen, gehen Frauen mit den gleichen weißen Kopfbedeckungen am Straßenrand. Die Steine scheinen hier lebendiger als die Menschen. Die von der Brandung abgeschliffenen Blöcke an der Nordküste bei Brigognan, die steinernen Hünengräber oder Dolmen, denen man da und dort unvermutet begegnet, und die unbehauenen, in einer unübersehbaren, schweigenden Versammlung beisammenstehenden Menhire bei Carnac. Auf einem Streifen von weit über einem Kilometer Länge und hundert Meter Breite, stellenweise in Zehnerreihen, stehen sie heute noch dort, wo sie in grauer Vorzeit aufgerichtet wurden. An einem Ende der Anlage mehrere Meter hoch, immer niedriger werdend und am anderen Ende in den Disteln verschwindend, erzeugen sie eine optische Täuschung, die den Steinacker noch größer erscheinen läßt.

Wurde mit den großen Steinen begonnen und verloren die Steinaufsteller die Arbeitslust? Oder begannen sie mit den kleinen, und ihr Können wuchs? Wann wurden die Steine überhaupt aufgestellt? Man weiß es nicht genau. Von welchem Volk? Man ist geteilter Meinung. Warum? Es gibt eine ganze Reihe möglicher Deutungen. Wie lange wurde an der Anlage gearbeitet? Niemand weiß es zu sagen.

Ein Hügel mit einem Kirchlein drauf. Im Inneren des Berges Grabkammern. Sie wurden aus mächtigen, tonnenschweren Platten errichtet. Dann erst wurde der Hügel aufgeschüttet.

Kaum sonstwo hat der Kampf des Christentums gegen die alten heidnischen Götter so lange gedauert wie in der Bretagne. Und kaum \ anderswo gelang es ihnen mit sol- \ chem Erfolg, sich durch die Hinter- \ tür des Aberglaubens wieder einzu- \ schleichen und in so manchem \ christlichen Gehirn festzusetzen.

Steine, zu denen man sich bei ge- \ eigneter Mondstellung nachts begab, \ um einen Mann zu bekommen. Steine, die, mit geheimnisvollen Formeln angesprochen, Kindersegen schenkten. Und steinerne Beile, die, heute im Museum aufbewahrt, noch vor Jahrzehnten alte und gebrechliche oder hoffnungslos kranke Menschen vom Leben zum Tod brachten. Das ganze Dorf nahm an einer solchen Zeremonie teil.

Die Menschen der Bretagne sind verschlossen. Die alten Frauen äugen mißtrauisch auf den Fremden. Warum hält er sich nicht gefälligst an die Badeorte, die aussterben, I usenn der Herbstnebel kommt? Was 1 sucht er noch nach dem Ende der | Saison? I

Kleiner Gasthof, wo die Wirtin 1 hinter der Theke schläft. Zwei | zurückgeblieben anmutende Kätzchen | mit bunten Schleifen in der Gast- jjj stube. Dafür oben im Zimmer — | Mäuse. Sie haben Hunger. Rascheln tn der Nacht. Licht. Eine entsetzte, \

mitten in der Bewegung erstarrte Maus auf dem Tisch.

Da man auch im Zoo für die Besichtigung der Tiere zahlen muß, ist es nur recht und billig, wenn auch der Gasthof „chez Michel“ u Plouharnel auf dem Umweg übei zuviel verrechnete Frühstücke unc nicht näher erklärte Zuschlägt

Doch Nachsicht ist am Platz. Das Urlauberparadies im äußersten Nordosten Frankreichs, Land der wunderbaren Badestrände, der billigen Austern und Krabben, der Fischerdörfer, das Land, das so lange Fremdkörper in Frankreich war, ist ein armes Land. Seine Bewohner haben anscheinend die Hoffnung begraben, bessere Zeiten zu erleben.

In der Auslage eines Andenkengeschäftes steht ein Schild: A ven-dre! An einem windschief in den Boden gerammten Pfahl am Eingang zu einem herrlich gelegenen Grundstück direkt am Meer ein Zettel: A vendre! An einer eleganten Villa, an einer Trafik, einem Milchgeschäft, in unzähligen Annoncen: A vendre! Zu verkaufen!

Die Menschen gehen, die Steine bleiben.

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