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MENSCHLICHE BEGEGNUNGEN

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In Italien machen sich seit einiger Zeit Symptome weitherziger religiöser Duldsamkeit bemerkbar. Katholische und reformierte Gemeinschaften nähern sich einander, lassen den Wunsch nach besserem gegenseitigem Verständnis, nach gemeinsamer Gottesnähe erkennen. Kürzlich wurde in einer kleinen toskanischen Stadt eine neuerworbene Kirchenglocke eingeweiht; an der Feier nahm die ganze evangelische Gemeinde mit ihrem Pfarrer an der Spitze ehrfürchtigen Anteil. Noch deutlicher macht sich die geistige Annäherung an den jüdischen Glauben bemerkbar; es ist bekannt, daß sich Italien mit Israel politisch wie geistig lebhaft identifiziert, vielleicht intensiver, als irgendein anderes westeuropäisches Land. Die überaus lebhafte Teilnahme an dem Schicksal des jungen jüdischen Landes, die Kraft eines Widerstandes gegen den Vernichtungswillen der arabischen Gegner sind in der italienischen Öffentlichkeit mehr als deutlich erkennbar.

Daß es vermutlich die bei allen Stämmen und Völkern so radikal veränderten Sitten und Gebräuchen sein dürften, welche eine so auffallende Duldsamkeit Andersgläubigen gegenüber zeitigen, wurde mir selbst dank einem kleinen persönlichen Erlebnis offenbar. Von Zeit zu Zeit, besonders vor großen kirchlichen Festen, begeben sich die Pfarrer der italienischen Distrikte auf eine Rundtour bei den wohlhabenden Familien ihres Sprengeis, um etwas materielle Hilfe für die weniger begünstigten Mitglieder ihrer Gemeinschaft zu bitten. Es ist eine sympathische, niemanden störende Bettelei, die wohl kaum je abgewiesen wird; meistens wird der Bittsteller persönlich gar nicht gesehen, die Gabe wird irgendwo am Eingang des Hauses oder gar in der Küche hinterlegt und ganz einfach, ohne weitere Erklärung, überreicht und übernommen.

Diesmal kam es anders: der sammelnde, noch junge und erst seit kurzem in dieser Gegend tätige Pfarrer wollte persönlich empfangen werden, persönlich die Mitglieder seiner neuen Gemeinde kennenlernen. Es kam ein junger Seelsorger, stellte sich vor und schien einem Gedankenaustausch nicht abgeneigt, anscheinend wünschte er einiges Persönliche über die ihm nunmehr anvertraute Gemeinschaft zuerfahren. Und nach einigen höflichen Phrasen fragte er in unbefangenem Ton: „Sind Sie Jüdin?“ „Ja!“ antwortete ich etwas überrascht, „nicht orthodox, doch sehr intensiv am Schicksal des Judentums interessiert und dem Staate Israel anhänglich.“ „So!“ antwortete er nachdenklich — „unser Herr Jesus war ja auch Jude.“ Und dann begann er mich mit lebhaftem Interesse über Leben und Verhältnisse am Schauplatz des biblischen Geschehens auszufragen. Er wußte einiges über die Örtlichkeiten, und es schien ihm große Freude zu bereiten, Einzelheiten seiner früher erworbenen Kenntnisse bestätigt zu hören. Dabei rauchte er eine Zigarette, trank vergnügt ein Gläschen Wermut und verabschiedete sich dankbar — mit einer Einladung, ihn an einem Abend der nächsten Woche in seiner Kirche zu besuchen. „Sie sind Musikerin, und vielleicht interessiert es Sie, unsere Kinder singen zu hören. An zwei Abenden der Woche werden Chorproben abgehalten, auch viele Eltern machen mit. Es wird mich freuen, wenn Sie sich das einmal anhören und mir sagen, ob Sie die Methode dieses Unterrichtes richtig finden…“

Jawohl, ich fand sowohl diese Methode wie auch das ganze Unternehmen richtig. Es war eine ganze Anzahl Kinder, kleinere und größere, zur Stelle, begleitet von ihren Eltern, die sich auch größtenteils am Gesang beteiligten, sofern sie nicht mit dem Beaufsichtigen und Ruhighalten der mitgebrachten Säuglinge beschäftigt waren. Auch einige „erwachsene“ junge Männer und Mädchen schienen ihren Abend gerne mit Singen zu verbringen. Der ebenfalls junge Dirigent, anscheinend erst vor kurzem aus einem Konservatorium entlassen, suchte zu lehren, zu vervollkommnen, Intonationsfehler zu korrigieren; doch auch er schien sich an der Strebsamkeit seiner jungen Truppe zu freuen. Und so diente man in der kleinen Kirche Kunst und Religion zugleich — in einer Weise, die nicht daran denken ließ, wie zu gleicher Zeit überall in dieser traurigen Welt, im fernen Westen wie im Nahen Osten, Gewalttätigkeit herrschte. Das Bewußtsein, daß an irgendeinem bescheidenen Ort sich Menschen der verschiedenen Kulte in gemeinsamem Versenken in Musik vereinigten, ließ diese Welt in versöhnlicherem Lichte erscheinen.

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