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„Opium für das Volle“

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Die Gläubigen und ihre Priester waren eine ständige Herausforderung für mich. Sie lebten von Papiergeld. Ich mußte Gold haben. Ich hätte ihnen gern meine Meinung gesagt. Da durchzuckte mich plötzlich ein Gedanke, der mir Spaß machte: nichts leichter als das. Ich brauchte ja nur in einem Beichtstuhl niederzuknien, als ob ich wirklich beichten wollte, um dann mein Gift in das priesterliche Ohr zu träufeln. Aus Vorsicht mußte ich nur eine entlegene Kirche aussuchen, damit ich nicht riskierte, dem Pfarrer nach diesem Streich einmal in die Hände zu laufen. Meine Wahl fiel auf die St.-Bernhards-Kirche.

Als ich eintrat, war sie noch leer. Auf Zehenspitzen schlich ich mich an die drei Beichtstühle heran. Der Pfarrer selbst kam nicht in Frage, als Aeltester von den dreien hatte er wahrscheinlich am wenigsten Verständnis für derlei Scherze. Blieben die zwei Vikare: Philippe Demanoir und Leon Morin. An den Namen mußte ich erraten, welcher von beiden empfänglicher sein würde. Philippe dürfte eher aus bürgerlicher Familie stammen. Leons Eltern hingegen waren sicher Bauern, sonst hätten sie ihm nicht diesen Namen gegeben. Vorwärts auf Leon! Es gilt, Morin! Mir wurde angst und bange, aber ich konnte nicht mehr zurück. Ich kniete nieder. Die Betstühle hatten sich inzwischen mit Büßerinnen gefüllt wie mit Kellerasseln. Wie gern wäre ich jetzt draußen an der frischen Luft gewesen, wie gern hätte ich diese peinliche Komödie.sein gelassen!

Morin sollte um halb sechs kommen. Gerade als es vom Turm die halbe Stunde schlug, kam er über den Steinboden geglitten, klein, farblos, mit gesenktem Kopf. Fast gleichzeitig mit ihm betrat ich den Beichtstuhl.

Nach einer Weile — in der Zwischenzeit wurde ich immer ängstlicher — öffnete sich das Fensterchen. Ich drückte meine Hände stark aneinander und flüsterte mit Heftigkeit:

— Religion ist Opium für das Volk.

— Das stimmt nicht ganz, antwortete Morin seelenruhig, als ob wir ein schon früher begonnenes Gespräch fortsetzten. — Die „Bourgeois“ haben aus der Religion Opium für das Volk gemacht. Sie haben sie zu ihren Gunsten verfälscht.

Mir war, als träumte ich, und nur mit Anstrengung brachte ich eine Antwort zustande: Ihr habt es geschehen lassen. Jetzt gibt es zwischen euch und ihnen keinen Unterschied mehr.

— Die Kirche ist selbst schuld daran, daß sje die Arbeiterschaft verloren hat, das stimmt, aber wir versuchen etwas dagegen zu tun. Ein Junge aus der Katholischen Arbeiterjugendbewegung, der gerade streikt, wird, nachdem er kommuniziert hat, den Streik noch viel entschlossener durchstehen. Das Herz eines Christen verabscheut — die Ungerechtigkeit.

— Das ist aber nicht alles. Selbst wenn die Religion rein geblieben wäre, so bewiese das noch nicht, daß sie auch wahr ist.

Ich spürte, daß Morin mir auf der andern Seite der durchbrochenen Holzwand mit größter, ja mit eindrucksvoller Aufmerksamkeit zuhörte.

— Selbstverständlich, sagte er, auch wenn die Religion rein geblieben wäre, so bewiese das noch nicht, daß sie auch wahr ist.

Es war mir peinlich, einen solchen Gemeinplatz von mir gegeben zu haben. Meine Gedanken liefen in panischem Schrecken auseinander. Ich begriff nicht mehr, wozu ich mich dieser peinlichen Situation ausgesetzt hatte. Ich stand auf, um wegzulaufen.

— Es ist sehr gut, daß Sie gekommen sind, sagte der Priester.

— Wieso gut? Ich bin... als Feindin bin ich hier.

— Glauben Sie? Ich glaub' es nicht. Sie haben schon lange nicht gebeichtet, nicht wahr?

— Seit meiner Firmung. Aber jetzt beichte ich ja nicht.

— Ich weiß, daß es kein Spaß ist, vor seinem Nächsten die eigenen Fehler einzugestehen.

— Spaß oder nicht, das ist mir gleichgültig, denn ich glaube nicht an Gott.

— Wissen Sie das genau? Sie beten niemals?

— Nur wenn ich nicht anders kann. Das ist eine Art Kindheitsgewohnheit, eine Schwäche.

— Sie sind stolz, nicht wahr? — Ja.

— Lügen Sie manchmal? — Ja. (Ich hatte das Gefühl, als spielte ich wider Willen ein quälendes Frage-und-Antwortspiel.)

— Sie haben niemals gestohlen? — Doch!

— Was haben Sie gestohlen?

— Lebensmittel. — Geraten Sie manchmal in Wut? — Ja. — Verstoßen Sie manchmal gegen die Keuschheit?

— Ich weiß nicht. — Kommt es vor, daß Sie zugunsten anderer auf etwas verzichten? — Nur zugunsten meiner Tochter. — Tun Sie Ihre Pflicht -als Staatsbürgerin? — Mehr oder weniger.

— Glauben Sie, daß Sie soviel leisten, wie Sie bestenfalls leisten könnten? — Nein. — Wissen Sie nicht, daß der heilige Paulus gesagt hat: „Die Welt wäre besser, wenn ihr es wäret“?

Ich empfing diesen Hieb, ohne zu zucken.

— Sie haben eben eine gute Beichte abgelegt, sagte da der Priester ohne einen Schatten von Ironie in der Stimme. Jetzt müssen Sie um Verzeihung bitten. — Wen?

— X, antwortet er fröhlich. Ich blieb stumm. Der Priester, mir so nah und doch so fern, schwieg und regte sich nicht. So bleiben wir jetzt bis ans Ende der Welt, dachte ich bange. — Sie haben keine Cpurage, sagte Mprin schließlich.

— Verzeihung. Mit einem gleichmütigen Ah! nahm er es zur Kenntnis.

— Möchten Sie, daß ich Ihnen eine Buße auferlege?

— Nein! (Ein Wirbelsturm schien mich hinwegzutragen.) — Doch. Eine Buße wird Ihnen gut tun. Nachher werden Sie draußen niederknien... — Auf einem der Samtschemel? fragte ich verächtlich.

— Nein. Auf dem Steinboden. Die Knie werden Sie ein bißchen schmerzen. Und dann sollen Sie beten, wie es Ihnen paßt.

— Da ich nicht glaube, wäre so ein Pseudo-gebet doch nur Hohn.

— Unsere Gebete sind niemals mehr. Das Mißverhältnis zwischen ihnen und Jenem, an den sie gerichtet sind, ist so ungeheuer groß.

— Aber wenn der Betende daran glaubt.. .

— Wer sagt Ihnen, daß die Bemühung nicht ebenso wertvoll ist wie der Glaube?

— Ich habe auch keine Gewissensbisse.

— Um so besser. Judas hatte Gewissensbisse, deshalb hat er sich erhängt. Reue wird von uns verlangt, das ist das genaue Gegenteil von Gewissensbissen . .. Und jetzt senken Sie den Kopf, damit ich Ihnen die Absolution geben kann.

Ich gehorchte. — Es ist nicht schwer, mit mir fertig zu werden, sagte ich.

— Es geht, antwortete Morin ganz ungerührt.

Er hob die rechte Hand und sprach langsam die Worte:

Ego te absolvo a peccatis tuis, in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti...

Er übersetzte es mir, indem er jedes Wort stark betonte. Dann schwieg er eine Weile. — Soll ich Ihnen etwas zu lesen borgen?

— Bitte ja, rief ich aus und bereute sogleich meine Eile. — Das Pfarrhaus liegt gerade gegenüber vom Kino „Le Moderne“, sagte er lebhaft, wann können Sie kommen?

— Nur abends, antwortete ich, und beruhigte mich ein wenig bei dem Gedanken, daß Priester in der Abenddämmerung gewiß keine weiblichen Besuche mehr empfangen dürfen.

— Paßt Ihnen Mittwoch um» halb neun? Dritter Stock, Abbe Morin. Werden Sie nicht vergessen?

Ich murmelte etwas Unverständliches. — Gehen Sie jetzt, sagte er mit beinah grober Stimme.

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