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Pierre Gandelmans bemerkenswertes Romandebüt

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Knapp 160 Seiten benötigt der französische Arzt Pierre Gandelman, um das zarte, nuancenreiche Bild einer tragischen Mutter-Sohn-Beziehung zu zeichnen, die - immer gut gemeint - zum Wahnsinn führt.

Und dabei beginnt alles so selbstverständlich, so alltäglich. Ein junges Mädchen wird Vollwaise und beschließt, als Dienstmagd in der französischen Provinz zu überleben, komme, was da wolle. Sie ist fleißig, pflichtbewußt, unauffällig und ignoriert geile Männerblicke ebenso wie das Getuschel über die Liebesaffären der anderen Mägde. Eben als ihr der Dienstherr nachzustellen beginnt, erhält sie das Angebot, als Näherin in die Stadt zu gehen. Und so landet sie in einem kleinen Modesalon, in dem sie genauso wie auf dem Bauernhof ihre Arbeit verrichtet, keine Gefühle hat, weil sie sich keine gestattet, und in ihrem möblierten Zimmer die Jahre vergeben läßt.

Als sie vor dem Metzgerladen ein langer, dürrer Beamter anspricht, der seit 20 Jahren dieselbe Stelle innehat und froh ist, „ebenso durchsichtig zu sein wie die Scheibe vor seinem Gesicht”, ist Rolande fast 40 und hat jedes Jahr ein bis zwei Konfektionsgrößen zugelegt. Doch schon fünf Monate nach der Geburt eines Sohnes stirbt der Ehemann. So, wie ihr schon das Glücklichsein nicht gelingen wollte, gelingt ihr die Trauer auch nicht recht.

Das Leben geht weiter, fleißig, pflichtbewußt und eintönig. Der Kleine wird vor allem zum Essen und Artigsein ermahnt. Mehr als mit Worten verständigen sich Mutter und Kind mit Gesten und Blicken. Mit der Ablehnung des eigenbrötlerischen, sprachgestörten Kindes durch Schulkameraden und Lehrer wächst seine innige Symbiose mit der Mutter. Nur bei ihr fühlt er sich sicher, wenn er aus der verwirrenden, feindlichen Welt zurückkehrt. Hier kann er seine Ticks entwickeln - das unentwegte Ordnen der Möbel und Nippesfiguren und die abgöttische Bewunderung seiner tüchtigen, dicken Mutter, die so sorgsam das Leben von ihm fernhält.

Die „schwere Krankheit” der Pubertät dauert länger, als die Mutter es duldet, doch wieder hat sie das „richtige Heilmittel”. Sie organisiert ihrem inzwischen in einer Bank mit dem Ordnen von unwichtigen Unterlagen beschäftigten Sohn eine kleine Wohnung. Zwei Tage in der Woche kommt er weiter heim zu Muttern, beladen mit schmutziger Wäsche und leeren Töpfen. Mit Verpflegung für die ganze Woche und frischgewaschenen, gebügelten Hemden verläßt er sie jeweils. Bald ist er genesen und kehrt heim zu seiner „Liebsten”.

Als sie erkrankt, pflegt er sie mit Hingabe wieder gesund. Doch irgendwann ermüdet ihr dicker Körper so nachhaltig, daß ihm der Arzt rät, „auf das Schlimmste gefaßt zu sein”. Fünf Tage nach ihrem Tod wird die Wohnung geöffnet, weil der Leichengeruch das Haus erfüllt. Der vierzigjährige „Bub” liegt neben der Mutter im Bett und kommt in ein psychiatrisches Krankenhaus.

In einem sehr ungewöhnlichen, pointillistischen Stil zeichnet der Autor seine Figuren, die, in sanftes, melancholisches Licht getaucht, nie wirklich lebendig wurden. Das unerbittliche Funktionieren, die Verachtung von möglichen Fehlern hat sie erstarren lassen, noch bevor sie sich wirklich bewegt haben. Nie konnte Energie in ihnen fließen, dafür war zuviel Angst da - und so werden selbst die pubertären Aggressionen nie explosiv oder beängstigend. Das Ventil des psychischen Drucktopfes wird von der Mutter geschickt reguliert, sodaß äußerliche Normalität möglich ist.

Die vielen grauen Punkte des Bildes spiegeln die Lebensfeindlichkeit und das ihr innewohnende Grauen dieser Normalität wider.

Ein empfehlenswertes Buch, das hervorragend geschrieben ist und das mit großer Tiefe und Deutlichkeit klar macht, daß das Leben Verirrun-gen, Fehler, Verzweiflung und Glückseligkeit benötigt, um tatsächlich ein solches zu sein. Weder eine dicke Haut noch der mütterliche Glassturz oder die selbstgewählte Isolation können auf Dauer verhindern, daß die psychischen Katastrophen irgendwann eintreten.

Findet die notwendige, für alle Beteiligten auch unter günstigeren familiären Umständen schmerzliche Loslösung aus der Ordnung, Geborgenheit und Sicherheit des Elternhauses nicht statt, führt das zu einer solchen Katastrophe - auch wenn man lange den sanften, schmeichelnden und verführerischen Schein der Bravheit wahrt.

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