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QUERSCHNITTE

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Schäume, schäume

Unter den zahlreichen Artikeln, die der Erinnerung der verhängnisvollen Schüsse von Sarajewo gewidmet waren, konnte man auch im Salzburger Organ der zweiten Regierungspartei lesen:

„Das Spalier am Appelkai ist dünn, denn wer die Habsburger haßt, das ,SchumeMaritza’ mehr schätzt als das ,Gott erhalte’ und das Wort ,Okkupation’ nur zähneknirschend aussprechen kann, blieb daheim, verkroch sich in den düsteren Winkeln der Altstadt."

Schäume weniger, du erhitztes Redakteurs- blut! Es ist nicht anzunehmen, daß gerade die chauvinistischen „unerlösten" bosnischen Serben eine besondere Vorliebe für die Nationalhymne der alten Widersacher ihres Volkes, der Bulgaren, gehegt haben. „S u m i M a r i c a okrvavena (Schäumt die Maritza, vom Blut gerötet ) ist bekanntlich die bulgarische Hymne, während man in Serbien „Boje pravde ti chto spase" (Gott der Gerechtigkeit, der du bewahrtest ) sang.

Schäume weniger, erhitztes Redakteursblut, kühler Kopf und — ein Griff nach dem Konversationslexikon

Der Sehende

Wien, am Mittwoch, dem 30. Juni 1954, 13.40 Uhr. Auf dem Graben, gegen den Kohlmarkt zu, der übliche Verkehr, der den Ueber- querer der Fahrbahn zu leichathletischen Amateurrekorden im Schnellauf und Weitsprung zwingt. Seit Minuten wartet ein Blinder — als solcher durch Brille, weißen Stock und Armbinde kenntlich — darauf, daß ihn jemand von den vielen hundert Passanten behilflich ist. Vergebens.

Die Dame dort mustert angeregt die Modeauslage mit den Sommerblusen; jener Herr und sein Freund die Buchhandlung; zwei andere Männer lassen sich vom Optiker in der Nähe eine Sonnenbrille vorführen und benützen sie sogleich — denn es ist ja Sonnenfinsternis. Viele andere blicken gleichfalls angestrengt zum Himmel. Der und jener hat ein geschwärztes Glas.

Der Mann aber, um den ewige Sonnenfinsternis ist, wartet. Minute um Minute.

Ein Taxichauffeur, der mit seinem Wagen auf eine Fuhre wartet, bemerkt den Blinden. Er steigt von seinem Lenkerplatz — gerade als ein Herr und eine Dame, offensichtlich Ausländer, herantreten, um ihn Zu einer Fahrt anzuheuern. Eine gute Fuhr’, wie man so im Jargon zu sagen pflegt: nach Schönbrunn hinaus.

Der Chauffeur aber murmelt eine kurze Entschuldigung und geht an den Fremden, die ihm verdutzt nachblicken, vorüber, an den Gehsteigrand, nimmt den Blinden zuerst an der Hand und dann unter den Arm und führt ihn, nach allen Seiten Zeichen gebend, über die Straße. Das dauert höchstens zwei Minuten. Als der Chauffeur zum Standplatz zurückkehrt, hat ein Kollege die Fahrt geschnappt.

Noch immer ist Sonnenfinsternis. Am Him mel. Merkwürdig aber: das Gesicht des Mannes, dem ein gutes Geschäft entgangen ist, ist ganz, ganz hell.

Kein Ort für Philosophen

Beleibte Herren in blitzendweißen Togen, mit Blumenkränzen im Haar, vor niedrige, unter der Last erlesener Gerichte durchgebogene Tafeln zu weisem Gespräch auf ihre Ruhelager würdig hingegossen — so sehen wir die alten Römer in der entweder an Ciceros zu funkelnden Juwelen geschliffenen Satzperioden geschulten oder durch den Film verdorbenen Phantasie. Der Akzent liegt entweder auf der durchgebogenen Tafel oder auf dem kultivierten Gespräch — je nachdem.

Oh, junger Lateiner, der du auf den Ruinen Carnuntums wandelst und den einen oder anderen Satz von einem Grabmal in deine nächste Schularbeit zu übernehmen gedenkst — sei eindringlich gewarnt! Das Risiko steht in keinem Verhältnis zum geringen Gewinn, den du erwarten darfst. Die Römer von Carnuntum haben nämlich, es schmerzt uns, dies zu gestehen, ein schauderhaftes Latein gesprochen.

Bewundernd stehen wir vor den mächtigen Fundamenten ihrer komfortablen Bauten. Die Häuser sind in Trümmer gesunken, aber ihre Fundamente werden gegenwärtig, bei den Ausgrabungsarbeiten an der Zivilstadt von Carnuntum, wieder ans Licht befördert. Kostbare Mosaiken auf den Fußböden, tief unter der Grasnarbe. Bunte Steinchen liegen, überallhin verstreut, herum und lassen uns mit Wehmut an verlorene prachtvolle Wandbilder denken. Neben den Außenmauern verlaufen die Kanäle — Kanäle, denen das moderne Petronell keine ähnlichen entgegenstellen kann. Und erst die Heizungen! Laßt uns die altrömischen Heizungen rühmen! Einige Wissenschaftler haben es sich nicht nehmen lassen, um die kunstvoll angelegten Heizungskanäle eines römischen Hauses das Haus wieder herumzubauen und die Anlage zu erproben. Das Ergebnis! Die römischen Garnisonssoldaten und die Zivilisten in Carnuntum haben in Räumen gewohnt, die nach unseren Begriffen immer gleichmäßig überheizt waren, obwohl man mit Holz und Holzkohle durchaus nicht verschwenderisch umging.

Die Tafel, die sich unter dem Bären schinken oder Wisentkotelett biegt, fügt sich in unserer Vorstellung harmonisch zu den raffiniert von unten erwärmten Mosaikböden und den Kanalisationssystemen. Die Römer waren nicht nur südliche Wärme gewöhnt, sondern brachten eben auch ihren ausgeprägten Sinn für Komfort ins rauhe Barbarenland mit. Sommers pilgerten sie zum Amphitheater, das an die 30.000 Menschen faßte. Ein Programmzettel ist leider nicht erhalten, aber wir können ihn rekonstruieren: Zuerst ein Elefant, der mit dem Rüssel Zahlen in den Sand schreibt. Dann zieht ein dressierter Fuchs einen Karren mit Gänsen durch die Arena. Aber wo bleibt die Befriedigung der Schaulust? Gemach! In der nächsten Nummer zerfleischen einander die verschiedenen Bestien, die Bären, Wölfe und Auerochsen und was sich sonst noch in den Wäldern des heutigen Burgenlandes tummelte, einige Gladiatoren folgen.

Wo bleibt denn die Kultur, werden Sie fragen, die vielgerühmte römische Kultur? Schamvoll verhüllen wir unser Haupt, denn die Gelehrten haben auch nach langjähriger Ausgrabungsarbeit keine Spur einer untergegangenen Kultur entdeckt. Keine Romani- sicrung, keine Kultivierung — die Römer brachten Heizanlagen, Kanäle, Straßen, Brücken und bequeme Häuser, aber keine Kultur. Die Amtssprache war natürlich Lateinisch. Aber welches Latein wurde hier gesprochen! Ein Latein, das man dem Deutsch eines galizischen Unteroffiziers der alten Monarchie würdig zur Seite stellen darf! Welche Stilblüten und grammatische Fehler in den Inschriften und Grabsprüchen!

In den Orkus mit dem Traum von edlen, beleibten Römern in blendendweißen Togen, die sich zu philosophischem Streitgespräch zur Tafel setzen. Carnuntum war eine Festung, eine Garnison, ein Militärstützpunkt mitten im rauhen Norden. Im Schatten des Kastells duckt sich die Zivilistenstadt, ausgediente Legionäre, von den Römern eingebürgerte Kelten und Illyrer gehen hier ihrem Handwerk nach. Der Feind steht am anderen Donauufer, und oft mag es heiß hergegangen sein. Oder war der Verfall des römischen Weltreiches der Grund dafür, daß stellenweise die Grabsteine unbekannter Legionäre zu Ausbesserungen an den Kanälen verwendet wurden?

Nimm mit Heizung und Kanal vorlieb, Centurio! Aber Kultur?

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