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Radimlj a ist noch nicht erwacht

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SCHON AM FRÜHEN Morgen haben wir Dubrovnik verlassen. Wir wählten nicht die Küstenstraße über Metkovic, deren Zustand uns als äußerst schlecht beschrieben wurde, sondern die landeinwärts führende über Trebinje.

Knapp vor Trebinje haben wir das Plateau erreicht, die Straße zweigt ab nach Westen, und wie eine Fata Morgana taucht plötzlich nach einer Biegung ein fruchtbares Talbecken auf: Popovo Polje. An den schmucken Häuschen, an der exakten Feldbestellung merken wir, daß wir uns bereits in der „Humina“, dem Beginn der Herzegowina, befinden.

Knapp nach dem Städtchen Sto- lac, wir haben das Talbecken inzwischen verlassen, ein Wegweiser: „Radimlja.“ Jetzt müssen die Bogumilengräber kommen! Und schon weitet sich linker Hand der Straße der große Friedhof, letzter Zeuge einer untergegangenen Religion. Mächtige Steinblöcke, Sarkophagen ähnlich, vereinzelt auch als aufrechtstehende Quader — von den Einheimischen „stecci“ genannt — oder in Kreuzesform, stehen da auf freiem Feld, jedermann zugänglich. Reliefs menschlicher und tierischer Darstellungen, Symbole des Kampfes und der Fruchtbarkeit, mitunter auch Schriftzeichen bedecken die Oberfläche der Grabsteine.

BIZARR UND SELTSAM wie ihre Gestaltung ist auch der Werdegang ihrer Schöpfer, die nun seit fast fünfhundert Jahren aus der Geschichte des Balkans verschwunden sind. Gegen Ende des 1. Jahrtausends n. Chr. war die aus Armenien stammende Lehre der Manichäer, eine Mischung aus persischer Licht- relijion und altsemitischer Legende, gekleidet in christliche Formen, über Kleinasien in das Gebiet des heutigen Bulgarien vorgedrungetl und hatte dort in dem abtrünnigen Popen Bogumil einen eifrigen Apostel und Reformator gefunden. Dem Druck des nahen christlichen Konstantinopel mußten seine Anhänger bald nach Westen, nach Serbien, und in der Folge nach Bosnien weichen. Dort erst, unter den noch in losem Verband lebenden slawischen Bergstämmen, faßte die Sekte festen Fuß und wurde bald zu einer Art Volksreligion. Im Gegensatz zum Christentum gab es keine Moralgesetze, die die Freizügigkeit des Lebens einschränkten; die priesterliche Funktion übten auserwählte Lehrer in der Art von Zauberern aus, die man im Notfall anrufen, und, wenn das nicht half, dafür auch züchtigen durfte.

Als sich im 12. Jahrhundert der ungarische Einfluß und damit das organisierte katholische Christentum nach Bosnien auszudehnen begann, war dort bereits das Bogu- milentum fest verwurzelt. Die einheimischen Stammesfürsten (Bane) begünstigten es offen oder geheim, je nach ihrer Abhängigkeit vom jeweiligen ungarischen König. Allmählich fand die Sekte auch Anhänger in Norditalien, die lombardischen Katharer, ja selbst in Franken. die sogenannten Albigenser. Nun schritten die Päpste energischer ein, und König Ludwig I.

von Ungarn gelang es 1377 nach der Krönung des Banus Tvrtko zum König von Bosnien das Wachstum der Sekte einzudämmen. Schon wälzte sich von Osten ein mächtigerer, gefährlicherer Feind des Abendlandes und der Kirche unaufhaltsam heran: die islamischen Türken.

Von West und Ost in die Zange genommen, schwor 1446 der bosnische Landtag in Konjic der Irrlehre ab und verwies die Bogumilen außer Landes, Die letzten Sektierer, es sollen 40.000 gewesen sein, siedelten sich in der Herzegowina an und traten dann nach dem Einbruch der Türken geschlossen zum Islam über.

NICHTS IST GEBLIEBEN als ihre Grabsteine, deren Bedeutung noch vor wenigen Jahrzehnten unbekannt war. So mancher herzego- winische Bauer betätigte sich als Schatzsucher, als er, vermutend, die Quader wären hohl und mit wertvollen Grabbeigaben gefüllt, mit seiner Axt den Stein anhackte. Daher hat die Regierung einige der wertvollsten Monumente in den Park des Nationalmuseums von Sarajewo geschafft.

Noch nehmen Anblick und Gedanken an tausendjährige Vergangenheit die Aufmerksamkeit in Anspruch, als uns Stimmengewirr aus der Gegend des abgestellten Autos in die Gegenwart zurückruft. Zigeunerkinder haben das Fahrzeug umringt, sie schauen nicht nur neugierig ins Innere, sie versuchen auch Türschnallen und Scheibenwischer zu bewegen. Mit ein paar Sprüngen sind wir dort. Man betastet uns. Bettelnde Augen und Hände; „Bonbon, Bonbon!“ und „Dinar, Dinar!“ ist der Ruf der immer größer werdenden Schar. Wir sind durch Erfahrungen gewitzigt. Eine Handvoll Zuckerln und Kleingeld in weitem Bogen aus dem Fenster geschleudert, und — Vollgas! Hinter uns ein sich balgender Haufen

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