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Sabine hat die Schule gewechselt

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Zur Erinnerung an deine Schul-freundin Sabine.” Hellblaue Vergißmeinnicht, gezeichnet von Kindeshand, zieren diese Worte in meinem Stammbuch aus der Schulzeit. Dieselben Blumen blühen heute neben dem dunklen glänzenden Stein am Grab meiner Schulfreundin.

In die Länder der Dritten Welt wollte sie ziehen, um den armen Leuten dort zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen. Doch plötzlich eine Kehrtwendung in ihrem Leben. Eine Veränderung, die sie soweit brachte, daß sie sich selbst nicht mehr helfen ließ.

Mit einer falschen Fjiitscheidung bei der Schulwahl im Alter von 14 hat alles begonnen. Sabine hat die falsche Wahl getroffen, oder besser, für sie wurde die falsche Schule ausgesucht. Verweigerung, Ärger und dennoch immer wieder der Traum von einem aufopfernden und zugleich erfüllenden Beruf als Entwicklungshelferin.

Doch dann das blaue Auge, als sie eines Morgens in die Klasse kam. „Sabine, hör' auf mit den Drogen”, meinte unser Klassenvorstand damals unüberlegt. Gerügt für diese gedankenlose Begrüßung soll er jedoch nicht werden. Wahrscheinlich hat er keinen Satz seines Unterrichtes mehr bereut als diesen.

Die Erklärungen des jungen Mädchens klangen wie aus den Schlagzeilen vielgelesener Boulevardzeitungen: Sturz über die Kellerstiege. Glaubwürdig?'

Die Leistungen der ehemaligen Vorzugsschülerin ließen drastisch nach, ein blauer Brief, und dann hieß es eines Tages: Sabine hat die Schule gewechselt. Sie ist jetzt in einem Internat in Wien. 23 Mitschülerinnen und zahlreiche Lehrer blieben zurück und gingen wieder zum alltäglichen Unterricht über.

In den folgenden Monaten waren im Klassenzimmer immer wieder Wortfetzen über das Beiinden des jungen Mädchens zu hören. „Sie raucht in ihrem Internatszimmer, obwohl es verboten ist, damit sie endlich von der Schule fliegt”, erzählten die einen. „Letztes Mal, als ich sie auf dem Bahnhof sah, war sie total bleich und grau angezogen wie eine Maus”, meinte eine andere. In jedem Gespräch über Sabine schwang im Unterbewußten der Satz unseres Klassenvorstandes mit: Sabine, hör' auf mit den Drogen.” Mit der Zeit wurde uns immer bewußter, daß aus dem ehemaligen „Scherz” einmal Ernst werden würde.

Ein paar Freundinnen besuchten

Sabine in ihrem „Gefängnis”, wie sie es ausdrückten.

Sie waren es, die sie zu sich nach Hause geholt haben, als sie sie mit einer Flasche Bier am Gehsteigrand gefunden haben.

Schockiert von der kleinen Notiz im Kurier waren wir dann alle: „Obdachlose verbrannte in U-Bahn-WC.” Eine Meldung, wie jene, die wir bisher Tag für Tag meist überlesen haben, fraß sich in unsere Köpfe hinein und ließ uns nicht mehr los... Was wir nicht alles hätten tun können?

Wenn heute meine „kleine” Schwester zu mir kommt und erzählt, daß einige ihrer Klassenkolle gen auf Parties ein paar Joints probieren, daß sie beim Toilettenbesuch am samstäg-lichen Clubbing regelmäßig mit dem Konsum von Tabletten, wie Ecstasy, konfrontiert wird und daß eine ihrer besten Freundinnen immer öfter eine von „denen” ist, dann überlege ich stundenlang, wie ich ihr helfen kann. Wen sie darauf ansprechen soll: die Lehrer, die Eltern oder das Mädchen selbst? Die Entscheidung fällt auf ein Telefonat mit den Sozialarbeitern einer Drogen-Beratungsstelle. Doch mit der Antwort: „Da muß das Mädchen ganz von alleine wieder rausfinden” ist für unser Problem keine Lösung gefunden. Bleibt uns wirklich immer nur das schlechte Gewissen?

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