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Vor dem Spiegel

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Vorn der- Märehenprinzessin wird berichtet,- daß sie am frühen Morgen ihre Toilette am See verrichtete, am See, der ihr Spiegel war. Barfuß sprang sie durch die taufrische Wiese. Ihre langen Haare flatterten im Morgenwind, die Bienen summten und das Herz der Prinzessin klopfte heftig. Es klopfte, weil die Prinzessin sich im See erblickte. Sie sah, daß sie schön war.

Mir geht es nicht so. Wenn ich des Morgens vor dem Spiegel stehe, dann möchte ich am liebsten wegschauen. Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht. Aber ich stelle mich mir immer fescher vor, als mich der Spiegel zeigt. Ich bin gar nicht zufrieden mit mir. Im Spiegel. Wenn sich das Rasiergeschäft dem Ende zuneigt, die Schaumwolke langsam mit dem Rasiermesser abgeschabt ist und die Haut wieder zum Vorschein kommt und mit ihr mein nacktes Gesicht, dann schneide ich aus Schreck und Verlegenheit Grimassen. „Einmal bleiben sie dir, deine Grimassen!“ sagt meine Frau zu mir, wenn sie mich bei diesem Gehabe erwischt.

Frauen haben leicht reden. Sie werden wahrscheinlich schöner, wenn sie sich im Spiegel beschauen. Oder sonst taugt einfach der Spiegel nichts.

„Ich weiß gar nicht, was jetzt der Spiegel auf einmal hat! Man sieht sich gar nicht mehr ähnlich!" sagte die alternde Kaiserin Elisabeth von Rußland, als sie ihre vermeintlich unver- welkliche Jugend im geliebten Spiegel nicht mehr bestätigt fand. Von da ab wurde der lange bevorzugte Spiegel entfernt und ein neuer auf gestellt. Man hatte einen ganz kostbaren aus Venedig kommen lassen. Leider hatte aber auch er die unangenehme Eigenschaft, das „wahre Gesicht“ zu zeigen. Nun wurde auch dieser Spiegel mit einem Vorhang überzogen und die enttäuschte Herrscherin würdigte den Spiegel keines Blickes mehr.

Kürzlich war ich bei meinem Schneider. Ich werde in die Probierkabine geführt. Hier ist alles Spiegel. Vor mir, hinter mir und zu beiden Seiten. Der Schneider heftet den Aermel mit Stecknadeln an, während ich meine Grimassen schneide. Uebrigens ein wonniges Gefühl: da Glattstreichen, das Abtasten. Und dazu der neue Geruch des Anzuges! Vor lauter Wonne vergesse ich auf meine Grimassen. Oh Schreck! Was sehe ich da? Da ist ja noch einer in der Kabine. Ein komischer Fremder! Ich sehe seine Rückseite. Die Haupthaare reichen ihm bis in den Nacken, dort ringeln sie sich. Immer schon war mir ein so geschmückter Nacken zuwider! Der Kerl könnte sich doch wenigstens die Haare schneiden lassen. Ausgesprochen unsympathisch, der Kerl! Ach so, das bin ja ich! Ich muß schon sagen: Von der Rückseite gesehen, bin ich mir noch unsympathischer als von vorne. In diesem Augenblick vergesse ich das wichtigste Gebot. Wie könnte ich meinen Schneider lieben, wenn ich mich selbst verachte! Tröstlich, daß die Nächstenliebe, die bei sich anfängt, gern in Selbstsucht ausartet! So ein Spiegel ist gar nicht dumm. Jetzt verstehe ich, daß man sich nie durch einen ungedeckten Rücken eine Blöße geben darf. Daß man nach vorwärts geht, daß man sich von vorne gegenübersteht, daß im Hinterkopf keine Augen eingebąut sind. Von hinten besehen, wäre nichts zu begrüßen.

Die Wandelgänge des alten Burgtheaters waren an ihren Enden mit riesigen Spiegeln versehen. Jedesmal, wenn die Promenierenden sich einem solchen Spiegel näherten, Stockte das Gespräch: die Herren greifen nach ihrer Krawatte, als ob sie einem Erstickungsanfall nahe wären. Die Linke fährt auf den Kopf, um die fehlenden Haare zu suchen. Die Damen aber lächeln, sobald sie in Reichweite des Spiegels kommen. Es ist kein siegessicheres Lächeln. Wenn sie's zugäben, was sie empfinden, dann wären auch die Damen todernst. Aber das .darf die Eva nicht. Es wäre wider ihre Natur. Die Gesichter entspannen sich erst, als die Gruppe sich vor dem Spiegel gewendet hat.

Ein Zauberer ist er, der Spiegel. Kein Wunder, wenn sich seiner det Aberglaube bemächtigt hat. Unsere Vorfahren vergruben ihn unter dem Galgen, neun Nächte lang, jede Nacht an anderer Stelle. Aber, bitte, mit dem Glas nach unten!

Der Spiegel zeigt uns, wer wir sind. Wir nehmen ihn nicht ernst, schneiden Grimassen, lächeln oder vergraben ihn. Er aber ist unerbittlich.

Bernard Shaw fand alle Karikaturen von sich schlecht. Und niemals ähnlich. Nur einmal, als er zu einem Bekannten auf Besuch kam, fand er dort eine Karikatur, die gut zu sein schien. Natürlich — sie war giftig. Wie konnte auch eine Karikatur anders sein? Aber sie war eine Karikatur, die nach Shaws eigener Meinung eine verteufelte Aehnlichkeit mit ihm hatte. Er tritt näher auf das Bild zu. Da bewegt sich die Karikatur. Es war nichts als sein Spiegelbild.

Geht es uns anders vor dem Zauberer Spiegel? Wenn wir ehrlich sind?

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