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Wer ist der Täter?

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MEHR MORDE. Neue Kriminalgeschichten aus England und Amerika. Auswahl und Vorwort von Mary Hottinger. Vignetten von Paul Flora. Eine Diogenes-Anthologie. Diogenes-Verlag, Zürich. 573 Seiten. Preis 22.80 sFr.

Der deutsche Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer wurde einmal gefragt, was er in seiner Freizeit tue. „Kriminalromane lesen“, antwortete er kurz aber aufrichtig. Wenn es auch viele nicht zugeben wollen: jeder hat schon einmal freudig nach einem handfesten Kriminalreißer gegriffen, um dem faden Kulturgeschwätz und dem verwässerten Literatengesäusel gar vieler anderer Publikationen zu entgehen. In England, dem Ursprungsland der Detektivgeschichten, genießt diese Literaturgattung bedeutend mehr Ansehen als bei uns. Wer kennt nicht das Bild des typisch englischen „Businessman“ in seiner tadellosen Kleidung, in der Untergrundbahn fahrend, vertieft in eine dieser spannenden Geschichten. Erst wenn seine Bestimmungsstation ausgerufen wird, reißt er sich von seiner Lektüre los und steckt sie für die Heimfahrt sorgfältig in die Tasche. Auf dem Weg zum Büro liegt das Lächeln der Vorfreude auf seinem Gesicht.

Im deutschen Sprachraum konnte sich bis jetzt der „gute“ Kriminalroman noch nicht durchsetzen. Sei es, daß es an Autoren mangelt, in denen Exaktheit und Phantasie verschwistert waren, oder sei es, daß das Desinteresse des literaturfreu-

digen Publikums an Gedankenakrobatik ein Entstehen solcher Erzählungen verhinderte. Man darf sich aber anderseits nicht wundern, in der vorliegenden Anthologie anglo-amerikanischer Mordgeschichten so bekannte Romanciers wie Graham Greene, Aldous Huxley und W. Somerset Maugham zu finden.

Die Zeit der großen Detektive ist vorbei, schreibt Mary Hottinger im Vorwort zum vorliegenden Buch. Dupin, Sherlock Holmes, Father Brown und andere existieren nicht mehr (ausgenommen in dem ersten Band der Diogenes-Anthologie, „Mord“). In den heutigen Geschichten sitzt niemand mehr mit der Pfeife zwischen den Lippen im Schaukelstuhl, um ein Verbrechen zu klären. Es ist ein Kind, das ungewollt zum Ankläger wird, oder der Mörder gibt sich selbst zu erkennen. Manche der Erzählungen bleiben ganz ungelöst.

Selten ist auch der berechnende, bösartige Täter geworden. Es sind gequälte Menschen, die zu einer Tat getrieben werden, deren Folgen nicht schlimmer sein können als ihr jetziges Leben. Die Grenzen zwischen den Mördern — oder sind sie die wahrhaft Getöteten? — und

dem Leser als sittlichem Richter beginnen zu verschwimmen. Und somit beginnt auch die Grenze zwischen Kriminalroman und Roman sich aufzulösen.

Viele dieser Geschichten sind mehr als nur Unterhaltungslektüre. Sie können einen so aufrütteln aus dem Schlummer der Sicherhett, in den man durch vorschnelle sittliche Urteile so leicht verfallen kann.

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