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Werthers Liebe und Leiden

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Im Jahr 1774 erschien Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ und wurde innerhalb weniger Jahre ein Welterfolg, vergleichbar nur den Bestsellern von heute oder jenen der zwanziger Jahre. Aber nirgendwo war seine Wirkung stärker als in Frankreich: Bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts hat man ihn hier lömal übersetzt und gedruckt, Frau von Kestner, Goethes (und Werthers) Lotte, war noch am Leben, als am Hof des Königs Jerome in Kassel eine Werther-Kantate aufgeführt wurde, und sie fuhr hin, sie sich anzuhören. Die erste Werther-Oper wurde genau hundert Jahre vor Massenets Werk uraufgeführt. Ihr Komponist war der Franzose Rodolphe Kreuzer (gesprochen Krösär), dann bemächtigten sich die Italiener des Stoffes: 1797 spielte man im Burgtheater eine „beschreibende Symphonie“ von Pugnani, eine symphonische Dichtung mit dem Titel „Werther — ein Roman, in Musik gesetzt“. Es folgten Werther-Opern von Benvenuti, Pucitta und Coccia, Gentiii und Aspa. Aber ihr Leben war so kurz wie das ihres Helden.

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Im Jahr 1774 erschien Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ und wurde innerhalb weniger Jahre ein Welterfolg, vergleichbar nur den Bestsellern von heute oder jenen der zwanziger Jahre. Aber nirgendwo war seine Wirkung stärker als in Frankreich: Bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts hat man ihn hier lömal übersetzt und gedruckt, Frau von Kestner, Goethes (und Werthers) Lotte, war noch am Leben, als am Hof des Königs Jerome in Kassel eine Werther-Kantate aufgeführt wurde, und sie fuhr hin, sie sich anzuhören. Die erste Werther-Oper wurde genau hundert Jahre vor Massenets Werk uraufgeführt. Ihr Komponist war der Franzose Rodolphe Kreuzer (gesprochen Krösär), dann bemächtigten sich die Italiener des Stoffes: 1797 spielte man im Burgtheater eine „beschreibende Symphonie“ von Pugnani, eine symphonische Dichtung mit dem Titel „Werther — ein Roman, in Musik gesetzt“. Es folgten Werther-Opern von Benvenuti, Pucitta und Coccia, Gentiii und Aspa. Aber ihr Leben war so kurz wie das ihres Helden.

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Die Uraufführung von Jules Massenets „Werther“ erfolgte am 16. Februar 1892 am K. K. Hofoperntheater. In Anwesenheit Massenets, der im Hotel Sacher ein Appartement bewohnte, sang Marie Renard die Charlotte. Aber seit 1931 wurde das in der ganzen Welt erfolgreiche und beliebte Werk in Wien nicht mehr gespielt. Denn Massenet wird auf unserer Opernbühne ebenso vernachlässigt, wie in den Konzertsälen seine Landsleute und Zeitgenossen Faure, Charpentier, Pierne, Chaus-son, Rabaud, Florent Schmitt und einige andere. — Massenet (1842 bis 1912) ist ein sehr typischer französischer Komponist. Sein Sinn für das Maß in allen Äußerungen des Affekts ist ebenso charakteristisch wie seine Klarheit und seine Eleganz. Die deutsche Tiefe ist durch „ten-dresse“ ersetzt Nach einem Wort seines Schülers Bruneau hat er „eine Sprache der Zärtlichkeit“ geschaffen, die zuweilen auch eindringlich und packend sein kann und „dank dem Violoncell“ eine merkwürdige Kraft besitzt. In jedem Franzosen stecke ein Stück Massenet, hat Francis Pou-

lenc einmal geschrieben. Mehr noch „La musique de Massenet — c'esl notre folklore.“ Brahms hingegen bezeichnete sie als „französische Zuckerbäckermusik“. Hiermit werden Eigentümlichkeiten und Grenzen des nationalen Geschmacks deutlich, Die Aufführung in der Volfcsoper kann im ganzen als gelungen bezeichnet werden. Am schönsten waren das Bühnenbild und der Zwischenvorhang: in der Zeichnung an Ludwig Richter, in den Farben an Watteau erinnernd, zu Beginn goldenbraun getönt, nachher winterlich kalt, immer stimmungsvoll und intim, eine „heile Welt“. Der kleine Platz mit dem rebenumrankten Gartenhaus und dem Brunnen, die braungetäfelte Stube — alles ist dem Bühnenbildner Henry Bardon vorzüglich gelungen und wirkte stets als „Interieur“, dem auch die Kostüme von Alice Maria Schlesinger ange-

paßt waren. Von einer Regie war wenig zu spüren (John Cnox), Werthers erster Auftritt hatte feierliche Ruhe und intensive lyrische Stimmung, Dramatik die Duoszene im 3. Akt — alles andere war konventionell, zuweilen peinlich (Kinder auf der Bühne sind immer eine Gefahr!) — Ohne daß von den beiden Protagonisten Gerlinde Lorenz und Adolf Dallapozza eine starke persönliche Ausstrahlung zu spüren gewesen wäre, machten sie ihre Sache doch recht gut, besonders das schöne Timbre des Tenors blieb im Ohr. Erland Hagegaard als Albert und Monique Lobasa als Lottes Schwester Sophie entsprachen den Anforderungen ihrer Rollen — und alle sahen jung und hübsch aus, wie man sie sich nach der Lektüre des Goethe-schen Briefromans und beim Anhören der Musik Massenets vorstellt. Diese klingt an vielen Stellen bereits nach Debussy, besonders in zwei Arien Werthers, mit ihren kleinen, oft nur aus Sekundschritten bestehenden Intervallen. Aber auch in den Aquarellfarben des Orchesterklanges. Zumindest an zwei Stellen geriet dem Dirigenten Dietfried Bernet das Orchester zu laut und zu grob. Französische Orchester spielen das alles zarter. Aber dort bestimmen die andersgearteten Bläser mehr den Klang. (Die auf dem Programmzettel des Abends nicht genannte Ubersetzung — von Max Kalbeck? — erweist sich als immer noch gut verwendbar.)

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