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Tugend auf dem Grunde der FlasJten

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Der Wein ist nicht unser Feind, er ist vielmehr ein Ratgeber, der sich in uns f des Kredits seiner langjährigen Wohl*' taten erfreuen will. Ich denke dabei nicht so sehr an seine physiologischen Segnungen, denn zum größten Schrecken seiner Verleumder haben die Forschungen unserer Ärzte sie schon seit langem I ans Licht gebracht. Ich möchte auf etwas anderes aufmerksam machen. Mein Freund Paul Valery — hartherzige Akademi4 ker verboten mir, ihn Kollege zu nennen — bedauerte einmal, daß das schöne Wort .Tugend“ aus unserem Wortschatz gestrichen sei. Dann aber fragte er sich, ob nicht die Tatsache selbst, die das Wort s ausdrücken soll, allmählich immer farbloser geworden sei. An den Ufern des Sees von Thau hat der Rhythmus schwankender Fässer Valerys Kindheit gewiegt, und gern hätte ich diesen großen Dichter einmal zu einem Bankett, geladen. Dort wäre ihm die Überzeugung gekommen, daß, wenn auch die Tugend von der Erde verschwunden ist, sie sich doch auf dem Grunde der Flaschen wiederfindet, und vor allem jener Flaschen französischer Weine, die mit Recht sich rühmen können, das Attribut .edel“ zu tragen.

Das tiefsinnige Wort Tugend erweckt zugleich den Gedanken an geistiges Feuer, an Tapferkeit und männliche Kraft sowie an Ehre, Reinheit, Rechtschaffenheit und auch Wahrheit, wie es das bekannte Sprichwort lehrt. Der Wein ist der Sohn von Erde und Sonne, aber auch die Arbeit eines Geburtshelfers weiß er zu vollbringen: gleich großen Gedanken und Werken quillt er aus der Kelterpresse hervor und haßt es, sogleich von einem gierigen und gedankenlosen Bauch verschlungen zu werden. Er bedarf der Mitwirkung von Kunst und Geduld, von Zeit und Achtsamkeit. Er bedarf einer langen Reifezeit im Dunkeln, um zu jenem Kunstwerk des Geschmacks zu werden, welches Hirn und Gaumen gleichermaßen entzückt.

Der Wein — und ich spreche genau so gut von jenem unpersönlichen und alltäglichen Getränk, das den ehrenhaften Durst eines Arbeiters stillt, wie von jenen klassischen Gewächsen, deren federbuschverzierte Heraldik das Wappenbuch unserer schönsten Provinzen ehrt — der Wein hat eine dreifache Mission: er ist das Vehikel einer dreifachen Vereinigung. Zunächst ist da die Verschmelzung mit der mütterlichen Erde, in die er seine Wurzeln gräbt und aus der er zugleich Seele und Körper empfängt. Dann die Vereinigung mit uns selbst: ganz sacht erwärmt, erweitert und entfaltet der Wein unsere Persönlichkeit; er belebt unsere Erinnerung, regt unsere Phantasie an, und mit den rosigen Fingern einer Homerschen Morgenröte ermutigt er unsere Aussichten für die Zukunft.

Der Wein ist der Lehrmeister des guten Geschmacks, und da er uns zu innerer Aufmerksamkeit erzieht, ist er auch der Befreier des Geistes und der Erleuchter des Verstandes. Und schließlich Ist der Wein Symbol und Mittel einer sozialen Verbrüderung: zwischen den Gästen wird der Tisch zu einer Plattform der Gemeinschaft, und der Becher, der die Runde macht, erfüllt uns mit Nachsicht, Verständnis und Sympathie für unsere Nachbarn.

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