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Abschied vom Beethoven-Jahr

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Im bis auf den letzten Platz besetzten Großen Musikvereinssaal spielte im Rahmen eines außerordentlichen Gesellschaftskonzertes Wilhelm Kempff am Vorabend von Beethovens 200. Geburtstag dessen drei letzte Klavierkonzerte in C-Dur, g-Moll und Es-Dur.

Wilhelm Kempff, der Fünfundsiebzigjährige, ist der letzte aus der alten Garde der gewesenen Beethoven-Interpreten, zu der Backhaus, Fischer und Gieseking gehörten. Über den jungen Kempff schrieb 1927 der Münchner Musikkritiker Alexander Herrsche, er sei „die reichste Begabung der jungen Generation“. Für ihn war der Geist der Musik immer wichtiger als der bloße Text. Diese „Hieroglyphen der Neuzeit“ aufzuschlüsseln, ist die Aufgabe des einfühlsamen und improvisatorischen Talents. Romantik und Rationalismus halten sich bei Kempff die Waage. Vor dämonischem Tiefsinn bewährte ihn sein hellwacher Kunstvenstand. Der einer Pastoren- und Musikerfamilie entstammende, in Jüterborg geborene Künstler sprach einmal von dem „zweigesichtigen Deutschland, das mit seinem Januskopf so rätselhaft in die Welt stiert“. Diese Distanz hob Kempff, wenn man ihm allzu subjektive Interpretation vorwarf, mit dem Hinweis auf, daß er direkt von Beethoven abstamme: sein Lehrer nämlich war der Klavierpädagoge Heinrich Barth; dieser war Schüler von Bülow, Bülow von Liszt, Liszt von Cerny — und Cerny von Beethoven. Im Spiel von Wilhelm Kempff, dessen Technik noch gänzlich intakt und dessen geistig-künstlerische Präsenz vollkommen ist, dominiert nicht mehr das Eigenwillig-Improvisatorische, oder das Grüblerisch-Schwelgerische des „Titanen“, sondern der Wille zu Maß und Ordnung.

Unter der Leitung von Walter Weller begleiteten die Wiener Symphoniker, und obwohl dies heute leichter ist als beim jungen, stürmischen Kempff, war es mehr eine gutwillige als eine kongeniale Partnerschaft. Helmut A. Flechtner

Höhepunkt in der Kette internationaler Beethov en-Ehrungen war die Aufführung der Oper „Leonore“ für die Union Europäischer Rundfunkanstalten im Musikverein. Zugleich auch ein Abschied vom Beethoven- Jahr. Mit einem „Fidelio“ für Kenner, die die dreiaktige Oper „Leonore“ zu schätzen verstehen. Beethoven hat sie 1803 bis 1805 nach Jean Nicolais Bouillys „Leonore ou l’amour conjugal“ geschrieben.

Viel wurde komponiert, viel verworfen. Allein für den ganz kurzen elften Auftritt entstanden 16 Skizzen. Während die Franzosen in Wien Einzug hielten, sollte die Oper urauf geführt werden. Intrigen führten zu Verschiebungen des Termins. Schließlich wurde „Leonore“ nach drei Aufführungen wegen schlechter Kritiken abgesetzt. Aber auch die neuerliche Aufführung Ende März 1806, mit drei Strichen und der 3. Leonoren-Ouvertüre, wurde ein Fehlschlag. Beethoven zog sein Werk zurück, um es erst 1814 wieder für eine Beniflzvorstellung hervorzuziehen, wofür er allerdings so viel adaptierte, daß — wie er selbst sagte — „beinahe kein Musikstück gleichgeblieben ist“.

Die Aufführung im Musikverein unter Carl Melles atmete packende Dramatik, mitreißendes Tempo. Ereignis des Abends war Gwyneth Jones: Ihr kraftvoller, geschmeidiger Sopran leuchtete, verströmte Wärme, Innigkeit, etwas Beseligendes. Nur, sie ahnt freilich noch nichts von ihrer späteren Bestimmung, von hohem Ethos, Nächstenliebe, Brüderlichkeit. Der Kuß der ganzen Welt ist ein privates Liebesglück zwischen Florestan und Leonore. James King sang die Partie Florestans in Hochform: einer, der sich mit Enthusiasmus zu Wahrheit und Recht bekennt. Bösartig-eruptiv wirkte Theo Adam als Pizarro: ein kraftvolles baßbaritonales Auftrumpfen. Ein verhaltener Rocco: Gerd Niemstedt. Heroisch, wenn auch in der Wort- deutlichkeit etwas mangelhaft, Eberhard Wächter als Fernando.

Carl Melles sorgte für dramatische Akzente.

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