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Absturz der Kunst

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Am 15. November 1984 fand in Wien eine Enquete der Ingenieurkammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland zum Thema „Bildung — Kreativität und Schule" statt. Der sehr gut besuchten Veranstaltung ging es darum, Argumente zu sammeln, um für weitere Auseinandersetzungen gerü- , stet zu sein. Ist doch der ästhetische Bereich, die bildnerische und Musik-Erziehung an den Allgemeinbildenden Höheren Schulen, in Gefahr, bei der Erstellung neuer Lehrpläne und Stundentafeln ins Hintertreffen zu geraten.

Soll nun der Maturant als „Gefühlsanalphabet" die sogenannte allgemeinbildende Schule verlassen? Diese Frage stellte Erwin Ringel bei der Enquete an das Unterrichtsministerium. Musiktherapie und Zeichnen oder Malen seien allgemein akzeptierte Methoden der Heilkunde. Sollte man sie nicht auch prophylaktisch einsetzen können? Den Diskussionsbeiträgen der Architekten und büdnerischen Erzieher gelang es, den Blick dafür zu schärfen, in welchem ästhetischen Notstand wir derzeit leben.

Seitdem die Wissensmagazine ins Ungeheuerliche wachsen, seitdem Information mit Wissen, ja mit Bildung verwechselt wird, wächst die Gefahr für die Allgemeinbildenden Höheren Schulen. Was bedeutet „Allgemeinbildung", wenn infolge des gesellschaftlichen Pluralismus Spaltung überwiegt? Spaltung in Hoch- und Subkultur, in angeblich etablierte formelle und unterdrückte informelle Kunst, in organisierte und „desorganisierte Religionen". Gerät da Allgemeinbildung nicht in Gefahr, eine

Dachorganisation zu werden, vergleichbar einem veralteten Wirtschaftsgehöft, Stall und Wohnung unter einem Dach? Ist Allgemeinbildung bei dem heutigen Bedarf an Spezialisten nicht ein unverantwortlicher Luxus?

Für die Verantwortlichen sind das offenkundig bereits rhetorische Fragen, denn sie sind bereit zu handeln und einen Teil der Allgemeinbildung just in der entscheidendsten Phase der Siebzehn-und Achtzehnjährigen zum Verschwinden zu bringen. Die bildnerische und die Musikerziehung sollen den Status eines Pflichtfaches verlieren.

• Zwei Wochenstunden, in denen junge Menschen die Chance hatten, unter umsichtiger Führung ihre künstlerische Erlebnisfähigkeit zu vertiefen, werden wegfallen. Emotionale Dürftigkeit und Verarmung der Kreativität nehmen zu. i

• Je dürftiger ausgebildet das Gefühlsleben, desto anfälliger ist die Jugend für „starke Reize".

• Sind Jugendliche in den vorwiegend intellektuellen Fächern kritische Zuschauer, Nachdenker und Nachrechner, so werden sie nur in den musischen Fächern von Zuschauern zu Akteuren.

• Die Schule hat zwei Funktionen zu erfüllen: Bindung an das Wirkliche, Entbindung des Möglichen. Künstlerische Möglichkeiten müssen bei jedem Menschen geweckt werden.

• In einer verstädterten Umwelt mit hoher Industrialisierung bieten künstlerische Aktivitäten Schongebiete für das Uberleben des Individuellen, sei es als freundliche Oasen oder als wehrhafte Igelstellungen.

• Wer die Kunst aus der Schule verdrängt, verlegt die Erziehung aus der Schule vor die Schule und in die Subkultur, sorgt also für den Niedergang der Institution „Schule".

• Der Auszug kulturellen Geschehens aus den Allgemeinbildenden Höheren Schulen, also aus der staatlichen Autorität, beeinträchtigt die geistige Dynamik in der Gesellschaft.

• Musische Erziehung versucht die Vermittlung zwischen den irrationalen Anteilen des Schöpferischen und den rationalen. Sobald sich das Irrationale verselbständigt, ist der Weg offen zum Wahnhaften, zur Ausschweifung, die ebenso gefährlich sind wie die Kopflastigkeit der reinen Wissensvermittlung.

• Die wichtigste — auch politische — Frage besteht darin: Wieviel Wirklichkeit dürfen wir noch verdrängen, welche negativen Auswirkungen unserer Industriegesellschaft dürfen wir noch verleugnen? Zugang zum Schöpferischen, Kreativen ist „Ökologie" der seelischen Kräfte. Wer diese stört, treibt den Menschen in die Welt der Automaten und damit in die Entpersönlichung.

• Denkendes und intuitives Bewußtsein müssen zugleich, nebeneinander und füreinander ausgebildet werden. In ihrer Verbindung liegt das Geheimnis des Kreativen. Die musische Erziehung in der Schule bietet eine Möglichkeit, auf die man nicht verzichten kann.

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