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Altpapier ?

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Jährlich 100 bis 150 neue Schulbücher — und dazu noch eine Reihe älterer Bücher, die durch eine kleine Änderung auf einen aktuelleren Stand gebracht worden sind — haben die Eltern zu immer lauter werdenden Klagen über die „Schulbücherflut“ veranlaßt. Seit 1962, sc schätzt man im Unterrichtsministerium, haben via Approbation durch dieses Ressort mehr als 1000 neue Schulbuchtitel ihren Weg in die Klassenzimmer gefunden.

Einem geschenkten Gaul schaut man normalerweise zwar nicht ins Maul, trotzdem sollte man sich grundsätzlich überlegen, ob es sich bei den Gratisschulbüchern nicht um ein trojanisches Pferd handelt. Wenn die momentane Diskussion sich voi allem darauf beschränkt, ob die Gratisschulbücher aus dem normalen Budget oder aus Mitteln des Familienlastenausgleiches bezahlt und wie die Zuteilung praktisch abgewickelt werden soll, so treffer diese Auseinandersetzungen wohl Teilbereiche, nicht aber den Kern des Problems.

Tatsache ist nämlich, daß die Lehrbücher nach dem Lehrplan der Schulen gestaltet werden sollen. Nun weiß aber jedermann, daß wir in einer Phase der grundsätzlicher Schulreform stehen — Entrümpelunt der Lehrpläne wird immer gefordert., nicht aber durchgeführt — und keiner kann mit Bestimmtheit sagen, wie die Schule in zwei oder drei Jahren aussehen wird. Grundforderung bleibt aber, daß die Lehrbücher dem Lehrplan entsprechen, denn es wäre sinnlos, Lehrbücher zu verwenden, die völlig anders aufgebaut sind als der Lehrplan. Dazu kommt noch, daß ein Großteil der jetzigen Lehrbücher schon nicht mehr den pädagogischen, methodischen und didaktischen Anforderungen des Jahres 1972 entspricht.

Deshalb die Frage: Können wir es uns leisten, Millionen für Gratisschulbücher auszugeben, von denen wir nicht wissen, ob sie morgen noch brauchbar sind, von denen wir aber sagen können, daß sie schon den heutigen Anforderungen nicht entsprechen? Der „geschenkte Gaul“ hat nämlich noch einen gewaltigen Pferdefuß. Wir sprechen von Chancengleichheit und übersehen, daß noch immer.jede zweite Volksschule weniger als vier Klassen hat und 34 Prozent der Aufnahmewerber an Bundeserziehungsanstalten keinen Platz finden, daß 300 Aufnahmewerberinnen für den Beruf einer Kindergärtnerin nicht ausgebildet werden können, und daß 1971 mehr als 2000 Schüler keinen Platz in höheren berufsbildenden Schulen gefunden haben, obwohl sie die Aufnahmeprüfung erfolgreich abschließen konnten. Um diesem Mißstand abzuhelfen, sind keine Sofortmittel vorhanden.

Man darf anderseits auch nicht übersehen, daß auch in die Schule nach der Zeit Gutenbergs bereits das technische Zeitalter Eingang gefun-I den hat: Audiovisuelle Lehrmittel revoltieren den Unterricht. Sprach-' labors und ähnliche Einrichtungen

• zählen zu jenen Errungenschaften,

■ deren sich heute die moderne Päda-. gogik bedient. Dafür bringen wir i allerdings in Österreich kein — oder

■ zuwenig — Geld auf. 1 Es besteht somit die ernste Gefahr, daß „Altpapier“ publikums- und ' wählerwirksam aus Steuermitteln den Schülern zum Geschenk gemacht wird, während für jene Einrichtungen, die sie dringender brau-s chen, kein Geld vorhanden ist.

Um aber Mißverständnissen vor-i zubeugen: Das Gratisschulbuch, bei i voller Entscheidungsfreiheit bei der

• Wahl durch die Lehrer, ist sicherlich i ein Fortschritt und grundsätz-

• lieh zu begrüßen. Nur scheint das ! zum gegenwärtigen Zeitpunkt dafür t aufgewendete Geld letzten Endes

■ beim Fenster hinausgeworfen zu I sein. i Für einen Politiker, nicht zuletzt I für Bundeskanzler Kreisky, wird es l schwer sein, in dieser Frage umzu-i denken. Aber auch für ihn und

■ seinen Unterrichtsminister Sinowatz

• sollten nicht die Wählerstimmen, d!e t durch eine solche Aktion zu erhof-' fen sind, ausschlaggebend sein, son-i dem rein sachliche Überlegungen.

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