6880869-1979_09_11.jpg
Digital In Arbeit

Am, dam, deß

Werbung
Werbung
Werbung

„Kaufmannstochter, Totengräber ...“ Wir zählten aus. Wer sollte Räuber werden, wer Gendarm? Wer als „Plumpsack“ außerhalb des Kreises bleiben und die anderen in lustvolle Angst versetzen, wer als „Mariechen“ auf einem Stein sitzen und weinen? Gerechtigkeit muß. herrschen, also zählten wir aus.

Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann? - Niemand! - Ich war der Schwarze Mann: bei „deß“ war der Zeigefinger der Spielgefährtin auf meiner Brust stehengeblieben.

Die anderen stellten sich in zwei Reihen auf und liefen aufeinander zu; wenn ich eine haschen konnte, ehe sie das Ziel erreichte, war sie danach Schwarzer Mann statt mir.

Beim Heimgehen fragte die Mutter: Wie geht eigentlich euer Auszählreim? Sie kam aus dem Norden, unsere Umgangssprache war ihr immer noch ein bißchen fremd. Sie hatte mit anderen Müttern auf einer Bank am Rande des großen Spielplatzes unter staubigen Baumkronen gewartet, bis es Zeit war, nach Hause zu gehen. Erhitzt und zerrauft trottete ich neben ihr über die Wienbrücke. Das dünne Rinnsal stank. Da war es wohl bald aus mit dem schönen Wetter... Warum? fragte ich mürrisch. Ich war müde. - Weil ich kein Wort verstanden hab ... Das glaub ich! Ich lachte und ratschte den Vers herunter: Am dam deß, dise male press, diese male pumberneß, am dam deß ...

Was ist denn das für ein Unsinn, das heißt doch nichts? Wo es' so nette Auszählreime gibt! - Aber das ist doch ganz wurscht! meinte ich.

Immerhin wollte ich ihr am nächsten Tag den Gefallen tun und als ich drankam zum Auszählen, deklamierte ich laut, damit sie ja herhöre: Kaiser König Edelmann, Bürger Bauer, Bettelmann! - Weiter, sagten meine Freundinnen, das gilt nicht, es geht ja weiter! Na gut. - Schuster, Schneider, Leinenweber, Kaufmannstochter, Totengräber. - Das hatte ich nun davon: alle durften sich einen Baum als Standort wählen, ich aber war übriggeblieben und mußte rufen: „Vatter Vatter, leih mir d'Scher, wo ist leer?“ - und während sie rasch ihre Plätze tauschten, mußte ich trachten, eine zu fangen ... Später, als uns das langweilig geworden war, zeichneten wir mit dem Absatz Kästchen in den Kies zum „Tempelhupfen“. Ohne Streit ging es selten ab. Aber fad war uns nie.

Auf dem Heimweg sagte die Mutter: „Diesen Auszählreim kenne ich, den hatten wir auch schon, aber nur den ersten Teil; warum hängt ihr eigentlich noch etwas an? Das ist doch sinnlos, nach dem Bettelmann?!“ Sie hatte recht, aber ich widersprach zu gern. Wir sind jetzt ja eine, Republik ... meinte ich vage. Sie lachte: Ja, allerdings, und der Spruch muß sehr alt sein, aus einer Zeit, als noch Könige dem Kaiser unterstanden! Immerhin, dabei kann man sich etwas denken. - Denken? eine gute Idee! - Warum kommt eigentlich die Kaufmannstochter fast zuletzt, die ist doch reich? - Wieso? - Die Mutter hatte nicht alles verstanden, aber nun, da ich ihr das Verslein wiederholte, erklärte sie energisch: Das ist Quatsch, so kann es nicht heißen! -Wie denn? - Sie dachte nach. Vielleicht: Kaufmann, Doktor, Totengräber? Ja, sicher und ursprünglich wird es geheißen haben: Bader! Bader, das waren Wundärzte, ziemlich rohe gesellen, und als es dann keine Bader mehr gab, hat man eben „Doktor“ stattdessen gesagt. „Kaufmanntochter“! sie lachte amüsiert, ich fühlte ihre kühle Hand an meinem heißen Nacken und ließ mich gern ein wenig verspotten.

Das Denken war nichts für mich, dazu wurde man ja schon in der Schule dauernd genötigt... Die Sonne stand rot und drohend hinter dem Konzerthaus, die Wien roch noch intensiver als gestern, die alte Sesselfrau hinkte noch mehr als sonst. Ich war müde. Der Mann, der uns entgegenkam, warf mir einen raschen, stechenden Blick zu; neugierig und erschrocken drehte ich mich nach ihm um und noch mehr erschrocken ergriff ich die Hand meiner Mutter, die nichts bemerkt hatte, und drängte zur Eile. Sie schmunzelte noch immer über die Kaufmannstochter. Was ist denn? Du hast wohl Durst? Zu Hause kriegst du ein bißchen Himbeersaft. Hör nur, es donnert schon, es wird bald regnen. Aber wir kommen schon noch trok-ken nach Hause.

Plötzlich hob ein jäher Windstoß Laub und Staub und warf uns alles ins Gesicht. Mit brennenden Augen begannen wir zu laufen.

Am, dam, deß, schrie ich lachend, dise male press ...

Wie prall und tröstlich und voller Geheimnis waren alle diese Worte, die nichts bedeuteten!

Sie fallen mir schon heute manchmal ein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung