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An Kraftmeierei mangelt es nicht

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Rasante Sprünge, wildes Gestrampel, Ballette, vollgetankt mit Leidenschaft und heroischem Auftrumpfen: Das ist der erste Eindruck, den man vom Leningrader Afalegot-Gastspiel beim Internationalen Ballettfestival an der Wien empfing. Und dieser Eindruck dominierte drei Produktionen lang: in „Romeo und Julia” zu Proko- fieffs Musik, in Hėrolds berühmter „Fille mal gardee” und schließlich im - für russische Verhältnisse - extrem avantgardistischen und lange Zeit in Moskau deshalb verbotenen Tanzdrama .Jaroslauma”. Drei Werke des Choreographen Oleg Winogradow, der seit kurzem nicht nur Chef seines Ma- legot-Balletts ist, sondern auch das viel berühmtere Leningrader Kirow unter seine Leitung bekam.

Der Gesamteindruck dieser Ballette ist allerdings höchst zwiespältig: Einerseits ungemein kraftvolle Tänzer, die die meisten Ensembles auch zur reinsten Kraftmeierei machen. Winogradow kann daher als Choreograph immer wieder auf die Sprungkraft, auf die solide Schulung dieses Corps zurückgreifen und interessante Gruppen und Ensembles stellen, ja das Corps auch mit technisch eminent schwierigen Aufgaben betrauen (was allerdings in Rußland wirklich keine Seltenheit ist. Man denke nur an die fabelhafte Verfassung vieler Tänzer in der Permer Truppe).

Zum Positiven gehört auch die Qualität der Solisten: hinreißend die junge T. W. Statkun, die als Julia und als Jaroslawna durch Schönheit, Eleganz, Zartheit des Ausdrucks, Tanzkultur ihr Publikum bezaubert; fulminant der junge K. A. Nowosjolow als Romeo oder der stürmisch und mit gewaltig viel Temperament auftrumpfende W.B. Ostrowskij, der als Fürst Igor mitunter eine tatarische Leidenschaftlichkeit entwickelt. Mit solchen Tänzern zu arbeiten, ist für jeden Choreographen ein Ansporn. Denn technisch gibt es keine Hemmschuhe, selbst die vertracktesten Figuren und Drehungen, Sprünge und Touren sind perfekt zu bewältigen. In dieser Hinsicht hat das Malegot-Ensemble also kaum Probleme.

Anderseits - und hier wird’s pro- blematisch-ist Winogradow einer, der „aufholt”. Ich meine im Stilistischen. Was in Europa zum Teil in den dreißiger Jahren an Ausdrucksübersteigerungen in Mode kam, was in der Nachfolge des deutschen Expressionismus und als moderner Ausdruckstanz bei einer Graham oder Wigman, bei Laban, Pallucca, Hoyer oder Kreutzberg verarbeitet wurde, scheint hier erst einmal ausgekostet zu werden. Da aber dieses Ballett natürlich klassisch geschult und trainiert ist, setzt Winogradow auf die klassische Tradition moderne Ausdruckselemente auf.

Und er setzt sie hemmungslos auf. Im Überfluß. Alle Figuren wirken überzeichnet. Alles outriert. Als Gipfel dieser „Revolution” wird der sterbende Mercutio in „Romeo und Julia” wie ein Gekreuzigter in einer Lichtaura abgeschleppt. Was wir als Geschmacklosigkeit abtun oder - in simpleren Momenten - mit einem Lächeln quittieren, bedeutet in Leningrad tänzerische Revolution. Revolution im Theatralischen, im Ausdruck.

Höhepunkte dieses mißverstandenen modernen Realismus häufen sich etwa in „Jaroslawna”, wo Winogradow Gelegenheit hat, in Polowezer- Schlachten, wüdem Kriegsfuror, nationalistischem Aufbegehren und aufgedonnerten Kriegsallegorien nicht nur dem Nationaldenken zu huldigen, sondern auch seine Theatralik in unappetitliche Häßlichkeit zu steigern: Wenn etwa ein Weib mit blutigen Händen bluttriefende Tücher auswindet und im Blut pritschelt… Oder wenn zum Beispiel im „Romeo” die Hieb- und Stechorgien des rasenden Liebhabers gegen seinen Feind Tybalt in peinliche Schlächterei Umschlägen. Wenn Romeo und Julia in kitschigem Rotlicht symbolisch Dolche in ihre hingeworfenen Gewänder stoßen. Wenn der brutale Graf Capulet seine nicht heiratswillige Tochter Julia mit Fußtritten malträtiert und eine fratzenhaft maskierte Hofgesellschaft, offenbar Symbol für eine dekadente, kaputtgehende Gesellschaft brutaler Bürgerlicher, daran ihr Ergötzen findet. Also auch Gesellschaftskritik nach Maß und auf Bestellung.

Dennoch muß man gestehen, daß es immer wieder schöne Szenen gibt, mit viel Geschmack arrangierte Ensembles, kultivierten Tanz. Und gerade diese Zwiespältigkeit mutet seltsam an, wie sie andrerseits dieses Gastspiel interessant machte. Denn sie zeigt, in welchem Umbruch sich diese Leningrader Truppe befindet und daß man von dort doch auch noch eine Menge an Neuem erwarten könnte. Wenn die modernistischen Tendenzen erst einmal ausgegoren sind.

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