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Englische Choreographie

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Die Reihe der Tanzveranstaltungen, mit denen die heurige Saison begann, führte uns die verschiedenen Möglichkeiten und Stilrichtungen des neuen Kunsttanzes vor Augen, so der Abend der Wiesenthal-Schule, Harald Kreutzbergs Tänze und Gestalten und Rosalia Chladeks neueste Tanzschöpfungen. Das Gastspiel des englischen ' Balletts 1 verdient besondere Beachtung, da hierein ganzes Ensemble neue Ausdrucksformen anstrebt und zum Teil auch schon verwirklicht hat, und da es überdies die erste Tanzgruppe aus dem Auslande ist, der wir wertvolle Anregungen zu danken haben. Nach dem choreographischen Bild „D i e Schlittschuhläufer“ konnte man gemeinhin nur eine Empfindung haben: die Verblüffung Über die unglaubliche technische Vollendung, durch die der Spitzentanz jene größtmögliche Schwerelosigkeit erreicht, die geradezu die Illusion des Antigraven hervorruft. Die Grazie dieser Eislauf gestalten, die vom Schwung ihrer Glieder getragen ab und zu schweben, ist die ideale Grazie der Marionetten, die auf subtile Mechanik zurückgeht. Das Wahrwerden des Traums vom Schweben über dem Erdboden ist die sonder- und wunderbare Wirksamkeit dieser Figürchen. Federnd, hauchig, frisch und kühl bilden sich und zergehen vor dem Prospekt einer Winterlandschaft immer neue Bewegungsgrüppen in reizenden Kostümen, die sich mit einer letzten Pirouette im Flockenwirbel auflösen.

Nach der Musik von Meyerbeer folgen die „Symphonischen Variationen“ von Ccsar Fränck. Eine wunderbare Musik. Hiezu soil es ein abstraktes Ballett geben. Oer Prospekt zeigt nur ein paar vage, magere Linien, die Kostüme sind ebenso spärlich. Alles wird also von der Bewegung abhängen. Ein Ballett ohne festen Handlungskern ist eine heikle Angelegenheit. Selbst die vollendete Technik, die kühnsten Überspannungen sind kein Äquivalent für solche Musik. Wir vermissen den gültigen Ausdruck. Irgendwie bleibt die Choreographie dünn im Liheament, flächig, ohne Tiefenwirkung, und es ist schöner, die Musik mit geschlossenen Augen anzuhören.

Im hoch dramatischen „Wunder irr? Hafenviertel Gorbai s“ reißen wir aber die Augen wieder auf. Eine heftige Erzählung, leidenschaftliche Einzelleistungen, prachtvolle rhythmische Steigerungen, welche Gruppen zusammenballen und wieder lösen. Hafenviertelatmosphäre mit allem Drum und Dran, Szenen in Hausfluren und auf Treppen, Tumulte, Auflaufe, dazwischen die wehe Klage einer Verzweifehen, die wunderbar gespielt ist. Die Handlung nimmt die Wandlung eines verko-imenen Mädchens durch das Auftauchen einer Christuserscheinung zum Inhalt. Der große Effekt der Szene versöhnt nicht ganz mit der Geschmacklosigkeit einer Wiederkunft Christi auf solche Art. Aber getanzt wird hinreißend, und die sdiauspielerischen Leistungen sind bis in die Komparserie so gut, daß man keine Stars aufzählen kann.

Um“ 1740 würden in England Kupferstiche nach den Entwürfen William Ho-g a r t h s reißend verkauft. Es wan mora-lisierende Erzählungen in Bildserien. Wie die Unschuld vom Lande jn der Stadt auf Abwege gerät, wie es einem fleißigen und einem faulen Gesellen ergeht, worauf die konventionelle Heirat nach der Mode hinausläuft und vieles mehr. Eine dieser Erzählungen hat Ninette de Valois, die Leiterin des Ensembles, zum Thema eines Balletts gewählt. Wer diesen „Lebenslauf des Wüstlings“ nicht gesehen hat. versäumte das Kernstück des Repertoires. Wir haben wohl seit vielen Jahren kein Ballett von so sicherem Geschmack, von so reinem Stil und so übersprudelndem Leben zu sehen bekommen. Kostümierung und Ausstattung folgen bis ins kleinste Detail den

Vorbildern jenes Moliere der Malerei. Aus Valois' französischer Geschmackssicherheit kommend, bezieht die Choreographie ihre Qualität aus der klassischen Schulung des altrussischen Balletts. Hinzu kommt noch die englische Begabung für die Tradition und die große Disziplin der Zusammenarbeit. Viele Bilder aus dem quirligen, sprudelndem Verlauf möchte man festhalten. So ausgewogen in der Farbgebung sind sie, so hinreißend in der Lebhaftigkeit des kontrastreichen Spiels. Es gibt wieder keine Stars. Jede kleinste Rolle jst bis ins Detail durchstudiert — eine Leistung für sich. Von der in hektischen Farben gehaltenen Szene am Kartentisch bis .ur letzten Verkommenheit im Tollhaus steigert sich die Erzählung ins' Grausige. Unglaublich, was der Spitzentanz an elementarem Ausdrucksvermögen leisten kann! Das betrogene Mädchen, dieses Püppchen auf Spitze, es stellt heroische Liebesleidenschaft einfach hinreißend dar. Man lernt daraus eines: daß die höchstgeschraubte Stilistik, daß diese überziselierte Kunst in ihrer letzten Vollkommenheit nicht ins Natürliche, aber ins Naturhafte zurückmündet. Die Gebärden der Verzweiflung des Mädchens haben etwas Geschöpfliches, Tierhaftes. Nach diesem Ballett wird einem vielleicht für lange aller Naturalismus grob und kulturlos scheinen. Es ist ein ganz großes Erlebnis, das uns“ diese Leistungen vermittelt haben.

Die Fieberphantasien des „H a m 1 e t“ zeigten eine weitere Stärke der englischen

Künstler. Es war Fieber mit allen giftigen Farben, es war starke „Hamlet“-Atmosphäre. Ein gespenstisches Geschehen, groß angelegt, prachtvoll, nächtlich, mysteriös. Wie abgefallene Blätter liegen am Schluß die Toten hingeweht, während Hamlet hinausgetragen wird. In diesem letzten Verwehen und Vergehen sinkt der Vorhang..

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