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Frühstücks-Jämmer

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Was also nehmen Abertausende von Reisenden täglich zu sich, da sie das Kleingedruckte überhaupt nicht lesen?

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Was also nehmen Abertausende von Reisenden täglich zu sich, da sie das Kleingedruckte überhaupt nicht lesen?

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Jeder, der schon einmal ein Hotelfrühstück Kategorie B hinter sich gebracht hat, weiß um die Müllhalde, in der er anschließend sitzt. Und er kennt die kleinen Plastikgefäße, die mit einem Stück Alufolie zugeschweißt sind und in denen, egal, welche Farbe ihr Inhalt hat und als was er deklariert ist, eine süßliche, gelatineartige Masse wartet, auf die Buttersemmel gestrichen zu werden.

Je nach Herkunftsland tituliert sich das als Konfitüre, Marmelade oder Jam, und wenn’s irgendwie geht, vermeide ich den Genuß derselben, da mir zumeist ein langer Tag bevorsteht, der meinen ganzen Einsatz erfordert und den zu leisten ich im Falle der Einnahme des besagten Breis vielleicht nicht imstande wäre.Trotzdem stecke ich mir albernerweise mitunter das eine oder andere Tiegelchen ein. Ich nehme es an mich, weil ich, trotz der erwähnten Skepsis, für alle Fälle eine Notration bei mir tragen möchte, eine lange speisewagenlose Bahnfahrt etwa überbrücken sollend, eine imbißlose Konferenzpause, ein Zimmer ohne Zimmerbar in der nächsten Nacht, man weiß ja nie.

Und so liegt also seit einiger Zeit ein solcher Napf in meinem häuslichen Eiskasten, ich brachte es noch nicht übers Herz, ihn wegzuwerfen, geschweige įenn das in seinem Inneren bereits antik gewordene Häufchen zu essen.

Doch ich lese die Aufschrift, Ribiselmarmelade lautet sie und ist also sichtlich nicht exportorientiert, sonst läse ich ja „Johannisbeere", ähnlich wie die Marille zur Aprikose und die Zwetschke zur Pflaume mutiert, aber drunter steht klein „35 Prozent Fruchtanteil" und das irritiert mich. Daß es so angegeben ist, zeugt von einer gewissen Ehrlichkeit, und ein vergleichbares Gefäß einer anderen

Marke weist das Einbekenntnis nicht auf und ist daher vielleicht europareifer.

Aber die Marmeladen, bei deren Entstehung ich seinerzeit meiner Großmutter zuschaute, waren stets durch Zugabe von hundert Prozent Fruchtanteil zustandegekommen, ich schwör’s als Augenzeuge. Das Rätsel der restlichen 65 Prozent, wer wird’s jemals lösen?

Was also nehmen Abertausende von Reisenden täghch arglos zu sich, da sie das - sofern überhaupt angeschriebene - Kleingedruckte überhaupt nicht lesen?

Mich schaudert’s. Doch ich bewahre das Näpflein weiter auf, ich werde es sogar in mein Testament aufnehmen. Wer weiß. In fünfzig Jahren wird’s einer in die Hand nehmen und träumerisch sagen: Oh. Welch eine Zeit. Damals waren’s noch fünfunddreißig …

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